ulrich schulte über den klimawandel im kleinen
: Ein Hoch auf die märkische Wildminze!

Eines morgens steht sie auf dem Schreibtisch. Sieht ganz harmlos aus. Sie ist ein unscheinbares, zartgrünes Gewächs in einem schwarzen Plastiktopf, darunter Zeitungspapier als Tropfschutz. Ich habe schon viel von ihr gehört. „Das Zeug wächst wie verrückt“, hatte der Kollege angekündigt und dabei bedeutsam die Augenbrauen hochgezogen. „Pass auf, wo du sie hinpflanzt.“ In seinem Gärtchen im Brandenburgischen muss sie mittels unterirdischer Ausläufer erbarmungslos expandieren, andere Pflanzen unterjochen, sich also alles andere als unauffällig benehmen. Und jetzt steht sie vor mir: ein Ableger der berühmten märkischen Wildminze.

Eingedenk der kollegialen Warnung bleibt sie auf unserem Neuköllner Balkon erst einmal in Isolationshaft. In unserem Kräuterkübel würde sie Thymian und Basilikum schnell zu verfolgten Minderheiten machen, und das wäre schade. Aber auch in ihrem engen Topf sprießt sie munter, lässt allenfalls bei mehreren Tagen ohne Regen leicht die Zweige hängen, um dann, nach ein paar Regentropfen, umso vehementer weiterzuwachsen. Für den Klimawandel ist sie also gut gewappnet.

Brandenburg hingegen nicht. Ich lege die Zeitung beiseite und piekse mit dem Finger in die Erde zwischen die frischen Triebe. Wobei, hier von Erde zu sprechen ist vermessen. Die Minze krallt sich in ein sandiges Etwas, das zwischen den Fingern rieselt wie ein Stück Ostseestrand. Brandenburg ist berühmt für seine sandigen Böden, zu Recht ist auch von der „märkischen Streusandbüchse“ die Rede. In heißen Sommern mit allenfalls kurzen Regenschauern, die in den nächsten Jahren immer häufiger auftreten sollen, offenbart der Boden seine größte Schwäche: Er speichert nämlich fast kein Wasser.

Der Regen sickert schnell in tiefe Bodenschichten durch, die Bäume und Minze nicht mehr mit ihren Wurzeln erreichen. Auf unserem Balkon kann ich dieses Phänomen dank der Wildminze jeden Tag beobachten. Während die anderen Balkonkästen mit einer – ökologisch bedenklichen – sattschwarzen Torf-Erde-Mischung gefüllt sind und Gießwasser locker zwei Tage halten, ist der beigefarbene Umlandsand schon am Abend wieder knochentrocken.

Die Minze verdrießt das nicht, sie ist, wie gesagt, hart im Nehmen. Alle paar Tage, wenn ein Trieb besonders hoch geschossen ist, schneide ich ihn ab. Die Blätter ergeben, abgezupft und in einem Glas mit kochendem Wasser aufgegossen, einen herrlich frischen Tee. In arabischen und nordafrikanischen Ländern – in denen ja auch oft sandige Böden vorherrschen – ist er das Nationalgetränk. Wenn wir in einigen Jahrzehnten also wirklich subtropische Verhältnisse in Berlin und Brandenburg haben, soll es mir egal sein. Denn mein Balkon ist mit der märkischen Minze auf alles vorbereitet. ULRICH SCHULTE

Das Wochenendwetter: bewölkt, aber meist trocken, um 20 Grad Der Tipp: Minze schmeckt fein gehackt sehr gut in Joghurt-Dressing am Salat