Spurensuche in Sachsen-Anhalt

In dem ehemaligen Tagebaugebiet im Geiseltal graben Archäologen gegen die Zeit. Dort, wo ein Seensystem mit dem größten künstlichen See Deutschlands entstehen soll, sind früheste Nachweise unserer Vorfahren zu finden. Die ältesten Spuren sind weit über 350.000 Jahre alt

„Das hier gehört zur Spitzenklasse von Fundstellen aus dieser Zeit“

VON ANNETT ZÜNDORF

Der ehemalige Tagebau Neumark-Nord ist ein stiller Ort. Nur der Wind bläst über die karge, von Kohleflözen durchzogene Erde im Geiseltal in Sachsen-Anhalt. Fontänen sprudeln Wasser in die Luft, denn hier soll wie im gesamten Leipziger Tagebaugebiet ein See entstehen. Schon jetzt ragen nur noch die Spitzen der Baumkronen aus dem Wasser. Am Rand des Tales, umgeben von Schaufeln, Pinseln und Nivelliergeräten, gräbt eine Gruppe von Archäologen gegen die Zeit.

Thomas Laurat beugt sich über einen Eimer und wringt ein weißes Tuch, als würde er Wäsche waschen, dabei will er Spuren sichern. Der Grabungsleiter breitet das in einer Gipsmasse getränkte Tuch vorsichtig über eine Fläche, in der bei genauem Hinsehen Spuren von Rehen und Rindern zu erkennen sind.

Vor 200.000 Jahren war hier das Ufer eines Sees, an dem sich wohl ganze Herden zum Saufen versammelten. Die Hufe einiger Tiere drückten sich wie Keilschrift in den Lehm. Eine Welle schwappte über die Eindrücke, sie schwemmte Erde an, deckte die Spuren zu – ein Glücksfall für die Archäologen. Aber nur der letzte in einer ganzen Reihe. Das einsame Tal muss früher ein anziehender Ort gewesen sein. Zwischen den Eiszeiten entstanden immer wieder Seen, an denen Tiere lebten – und Menschen. An verschiedenen Grabungsstellen haben die Archäologen ihre Spuren gefunden. Die ältesten sind 350.000 bis 400.000 Jahre alt und die ältesten ausgegrabenen Nachweise menschlicher Besiedlung in Sachsen-Anhalt.

Eine weitere Fundstelle ist etwa 220.000 Jahre. Bei der jüngsten, einem fossilen Seebecken mit vier Fundschichten, können die Ausgräber wie durch ein Zeitfenster zwischen 200.000 und 90.000 Jahre zurückblicken.

„Selten lässt sich eine solche Abfolge von Kulturen finden“, schätzt Veit Dresely vom Landesamt für Archäologie in Sachsen-Anhalt die Bedeutung der Fundstelle ein. „Das hier gehört zur Spitzenklasse von Fundstellen aus dieser Zeit.“

Dass hier Spuren gefunden wurden, war echtes Archäologenglück. Nach 300 Jahren Kohlebergbau riss 1986 ein Bagger zufällig eine Fundstelle auf. Bei der anschließenden Notgrabung fand der Jenaer Archäologe Dietrich Mania im 220.000 Jahre alten Seebecken die Skelette von 26 Waldelefanten, von Löwen, Bären und Hirschen. Die meisten der Tiere waren von Menschen geschlachtet worden, an einem Feuersteinmesser klebte noch organisches Material.

„Wahrscheinlich handelte es sich um eine Art Kleber“, sagt Laurat. „Das bedeutet, dass die Menschen auch damals schon vorausplanend handeln konnten, und ist ein Hinweis auf den modernen Menschen.“ Das Seebecken liegt mittlerweile unter Wasser. Genauso wie die älteste Fundstelle, an der die ersten Siedler Sachsen-Anhalts 120 Reste von Feuersteinen hinterließen, außerdem wurden im Flussschotter 50 Wirbeltierfossilien angeschwemmt. „Diese Funde sind in die Zeit der Grabungen von Schöningen und Bilzingsleben einzuordnen“, erklärt Laurat. Bei den dortigen Grabungen wurden Hinweise auf Wohnbauten und Überreste von Speeren gefunden. Demzufolge müssen die ersten Bewohner des Geiseltals zur Art Homo erectus gehört haben. Über die Lebensweise dieser frühen Menschen wissen die Archäologen nicht sehr viel, ganz im Gegenteil zur jüngsten Fundstelle.

Die neanderzeitlichen Menschen lebten in nomadisierenden Jägergruppen. Sie fischten, sammelten Nüsse und Früchte und gingen auf die Jagd. Bei der Grabungsstelle am ehemaligen Seeufer könnte es sich um ein Jagdlager handeln. Im weichen Sand zerlegten die Menschen offenbar ihre Beute.

Unzählige bearbeitete Feuersteinreste haben die Archäologen gefunden. Sie wurden mit der Levallois-Technik gefertigt, die darauf hinweist, dass hier Neandertaler lebten. „Diese Schlagtechnik ist die Voraussetzung für bifaziale, also an zwei Seiten behauene Werkzeuge“, sagt Laurat.

Dazu gehören auch die Keilmesser, die in der obersten, 90.000 Jahre alten Schicht lagern und schon weit entwickelte Werkzeuge sind, die kompliziertere Handwerkstechniken ermöglichten: „Gegen die Kälte war gute Kleidung notwendig“, sagt Hansjürgen Müller-Beck, Archäologe aus Tübingen. Und offensichtlich auch eine Behausung. 25 Kilo schwere Steinbrocken haben die Menschen herangeschleppt. Mit denen könnten sie Zelte beschwert haben.

Außerdem liebten die frühen Siedler wohl das Besondere: „Wir haben zwei fossile Haifischzähne ausgegraben, dazu einen Teil eines versteinerten Tintenfisches und Reste einer Koralle, die Menschen vor 90.000 Jahren gesammelt haben“, sagt Enrico Brühl, der andere Grabungsleiter. Diese Fossilien brauchten die Menschen nicht zum Leben. Trotzdem geht Brühl nicht von einem Zufallsfund aus, denn offenbar waren den Urmenschen Fossilien, Kristalle und Mineralien wichtig. „Diese Stücke sind weltweit selten gefunden worden. Einige Funde gibt es in Südafrika und in Ungarn.“

Auch die anderen Funde haben allesamt Seltenheitswert. Wohl deshalb findet der Tübinger Müller-Beck große Worte: „Es ist fast wie in Olduvai, der berühmten afrikanischen Fundstelle.“ Mittlerweile arbeiten an der Grabung im Geiseltal Wissenschaftler aus Leiden und vom Römisch-Germanischen Museum in Mainz. Viel bleibt zu tun.

Die Fundstellen, die bisher nur anhand der geologischen Schichten datiert wurden, müssen genauer zeitlich eingeordnet werden. Dafür werden Knochen- und Pflanzenreste radiometrisch vermessen, Pollen und Muschelschalen bestimmt und zeitlich zugeordnet. Gleichzeitig graben die Archäologen weiter. Denn während sie sich mühsam Quadratmeter für Quadratmeter und Schicht für Schicht vorarbeiten, steigt das Wasser im Tal stetig höher.