Per Direktwahl ins höchste Amt

Türkisches Parlament stimmt für Änderung der Verfassung. Beobachter erwarten Referendum

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

Gestern hat das türkische Parlament mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit die Einsprüche von Staatspräsident Ahmet Necmet Sezer gegen eine Verfassungsänderung zur zukünftigen Präsidentenwahl zurückgewiesen. Damit hat das Parlament nun abschließend festgelegt, dass der türkische Staatspräsident künftig direkt vom Volk gewählt wird. Die Verfassungsänderung war eine Reaktion auf die misslungene Wahl von Außenminister Abdullah Gül Anfang Mai. Die Wahl war nicht zustande gekommen, obwohl die regierende AKP im Parlament über eine breite Mehrheit verfügt, weil das Verfassungsgericht auf Antrag der Opposition festgestellt hatte, dass für die Wahl eine Zweidrittelmehrheit der Abgeordneten im Parlament anwesend sein muss. Die CHP konnte so durch einen Boykott der Wahl den Präsidentschaftskandidaten der AKP verhindern.

Trotz der gestrigen Entscheidung im Parlament ist die Wahlprozedur des künftigen Präsidenten jedoch immer noch nicht ganz klar. Der noch amtierende Präsident Sezer, ein erklärter Gegner der AKP, hat noch die Möglichkeit, über die Frage ein Referendum abhalten zu lassen. Nahezu sämtliche politische Beobachter gehen davon aus, dass Sezer davon Gebrauch machen wird. In diesem Fall müsste nach einer Frist von drei Monaten im Herbst das Volk zunächst entscheiden, ob es den Staatspräsidenten direkt wählen will, bevor der Wahlkampf um das Präsidentenamt starten kann.

Damit wäre zunächst einmal klar, dass am 22. Juli nur über ein neues Parlament abgestimmt wird. Der Parlamentswahlkampf ist auch schon in vollem Gange und wurde in den letzten Tagen noch dadurch angeheizt, dass die oberste Verfassungsrichterin Tülay Tugcu die Staatsanwaltschaft gebeten hat, ein Verfahren gegen Ministerpräsident Tayyip Erdogan wegen Beleidigung des obersten Gerichts einzuleiten. Erdogan hatte am Tag zuvor in einer Parteiveranstaltung die Verfassungsgerichtsentscheidung, durch die Güls Wahl verhindert worden war, als „Schande für die türkische Justiz“ bezeichnet.

Vor allem die oberen Ränge von Justiz und Staatsbürokratie sind in der Regel mit überzeugten Kemalisten besetzt, die allesamt als Gegner der moderat-islamischen AKP gelten. Da für ein Verfahren gegen Erdogan jedoch zuvor das Parlament die Immunität des Ministerpräsidenten aufheben müsste, was angesichts der Mehrheiten undenkbar ist, dürfte dieser Vorstoß vor allem als eine Unterstützung der Oppositionspartei CHP gedacht sein.

Derzeitigen Umfragen zufolge wird die AKP von Tayyip Erdogan wohl auch im kommenden Parlament wieder stärkste Partei werden. Jedoch werden sich die Kräfteverhältnisse wohl trotzdem erheblich verändern, weil im künftigen Parlament nicht mehr nur die AKP und die CHP, sondern mit der aus zwei Rechtsparteien fusionierten YDP und der rechtsradikalen MHP zwei weitere Parteien sitzen werden und die AKP deshalb voraussichtlich eine Koalition eingehen muss. Damit wäre dann eine Hegemonie der moderat-islamischen AKP verhindert und das laizistische Lager mit dem alten Establishment hätte wieder eine wichtige Stimme in der Exekutive.