Von Müll und Misstrauen

Nachdem die Stadt wochenlang im Müll erstickte, hat Neapel nun zaghaft mit dem Großreinemachen begonnen – die Dauerkrise aber hält an. Denn der Müll kommt erneut bloß in provisorische Zwischenlager. Und wo immer die Müllwagen auftauchen, um ihre stinkende Fracht abzuladen, gibt es heftige Proteste. Gescheitert ist vorerst auch der Versuch, das Problem zu exportieren. Nach Rumänien solle der Dreck, hatte es in den letzten Tagen geheißen – doch Rumänien lehnte dankend ab. MB

AUS NEAPEL MICHAEL BRAUN

Manchmal ist es nur eine Straßenecke, die die Normalität vom Notstand trennt, vom Chaos. Normalität: das ist die riesige Piazza Garibaldi vor dem Zentralbahnhof von Neapel, mit ihrer U-Bahn-Baustelle, mit dem Hupkonzert der Autos, die sich aus den Seitenstraßen kunstvoll unter Ausnutzung nicht vorhandener Lücken in den Stau auf dem Platz drängeln – und mit den ordentlich aufgereihten Müllcontainern. Keiner der anthrazitgrauen Behälter ist zu mehr als zu einem Drittel gefüllt.

„Hier kommt die Abfuhr regelmäßig.“ Der Apotheker im weißen Kittel vor der „Farmacia De Blasi“ schiebt seine Brille hoch auf die Halbglatze. „Schließlich haben wir in Neapel gerade den Maggio dei Monumenti, den Mai der Monumente, mit zehntausenden Touristen.“ Sein Mund verzieht sich zu einem sarkastischen Grinsen. „Der findet im schön geputzten Zentrum statt. Im Rest der Stadt steigt der Maggio della Monnezza, wie jedes Jahr, der Mai des Mülls.“

Gleich auf der anderen Seite der Bahngleise erhebt sich das „Centro Direzionale“, das seit den Achtzigerjahren errichtete Hochhausviertel, mit dem Neapel, die Millionenstadt der Arbeitslosenmisere und der Camorra, der muffigen Elendsviertel und der dunklen Winkel in der Altstadt, sich endlich ein modernes Gesicht verleihen wollte. Das monotone Grau der Betonschluchten zwischen den 15-stöckigen Wohnblöcken und den Büro-Towern wird unterbrochen durch ein buntes Farbenspiel: Rosa, gelb, blau, grün, schwarz türmen sich prall gefüllte Plastiktüten am Straßenrand. Meter um Meter blockieren die Haufen den Bürgersteig, okkupieren sie jede Parkbucht. Aufgeplatzte Tüten geben den Blick frei auf matschige Spaghetti, Joghurtbecher, Konservendosen, auf Gemüsereste, deren ursprüngliche Farbe sich nur ahnen lässt; dickflüssige Rinnsale sickern den Tütenberg runter auf den Asphalt.

Mit Neapels Modernität ist es direkt hinter dem mächtigen Justizpalast vorbei, nicht aber mit dem Müll. Oben schwingt sich die Stadtautobahn kühn auf hohen Pylonen durch Industriebrachen, dazwischen immer wieder ärmliche, schwarz hochgezogene Häuser ohne Putz, und unten, auf der direkt unter der Autobahn verlaufenden Straße, bilden die Müllhalden auf beiden Seiten der Fahrbahn gleichsam die Leitplanke. Kein Mensch ist zu Fuß unterwegs, kein einziger Autofahrer hat in der bald 30 Grad warmen Stadt die Scheiben runtergekurbelt. Endlich, nach gut zwei Kilometern, ein Müllwagen in Aktion. Drei Männer räumen eine total zugemüllte Kreuzung frei. Die Matratzen oder die Gehäuse alter Fernseher kommen auf einen Kleintransporter mit offener Ladefläche, nachdem die Männer den Sperrmüll aus dem Berg fauliger Tüten und Säcke rausgezogen haben – Mülltrennung auf neapolitanische Art.

Die Männer in den Overalls lassen es gemächlich angehen. „Wieso beeilen?“, meint der mit dem Schnurrbart, „wenn wir den anderen Wagen, den eigentlichen Mülltransporter, vollgeladen haben, fährt der zur Müllverarbeitungsanlage in Caivano vor der Stadt. Da kann er sich dann einreihen in die Schlange von hunderten Müllwagen. Unsere Kollegen stehen da manchmal 24 oder sogar 36 Stunden in der Schlange, bis sie endlich entladen können.“ Der Fahrer ist von der Aussicht nicht sehr begeistert, weil er stundenlang unter der gleißenden Sonne warten muss, „und wie es bei diesen Temperaturen zwischen hunderten von Müll-Lkws riecht, kann man sich denken.“ Aber es gibt einen guten Aspekt, meint er. Jede Minute der Warterei kriegen die Müllfahrer als Überstunden vergütet. Aussicht auf Besserung? Ein Schulterzucken. Solange es in der Region keine einzige Müllverbrennungsanlage gibt, ist der Engpass halt programmiert.

Nur zehn Minuten Autofahrt weiter endet das Stadtgebiet von Neapel. Haus an Haus reiht sich ohne Unterbrechung auf der Straße am Meer entlang – und doch macht sich die Stadtgrenze überdeutlich bemerkbar. In Portici liegt keine einzige Mülltüte auf den Straßen. Die Männer am Zeitungsstand palavern über den Giro d’Italia statt über die „emergenza della monnezza“, den Müllnotstand. Carmine, wohl an die 30 Jahre alt, fährt sich ratlos mit der Hand durch die kurzen, gegelten Haare. Er ist als Grafiker oft in Neapel, erklären kann er sich nicht, wieso es dagegen in Portici mit seinen immerhin 100.000 Einwohnern total sauber ist. „Das ist auch für uns völlig mysteriös. Es heißt doch, in der ganzen Region herrscht Notstand, und alle Deponien sind voll. Hier ist die Abfuhr aber immer gekommen, Tag für Tag. Aber was machen die mit unseren Abfällen?“ Er lacht auf. „Vielleicht kippen die den Dreck ja nachts heimlich in den Schlund des Vesuvs oder gleich ins Meer. Ich traue keinem von denen.“

Das Misstrauen teilt er mit den Menschen in Frattamaggiore. „Stadt der Kunst“ verheißt ein Schild am Ortseingang, und gleich dahinter sind äußerst kunstvoll hunderte Plastiktüten Müll auf 30 Meter Länge am Straßenrand aufgeschichtet. In der Kleinstadt auf der anderen Seite Neapels hat der Bürgermeister erst mal die Schulen genauso wie die kommunalen Behörden zugesperrt, aus Sorge um die Gesundheit der Bürger. Klasse finden das ein paar Jungs, wohl zwölf Jahre alt, die gerade mit ihren Mountain-Bikes Slalom an den Müllbergen entlangfahren. „Eine der schmutzigsten Gegenden des ganzen Großraums Neapel“ sei Frattamaggiore, sagt einer fast stolz. Für ihn „könnte das das ganz Jahr so weitergehen, mit schulfrei und allem Drum und Dran“. Resigniert zieht dagegen ein älterer Herr die Schultern hoch. Nein, Hoffnung auf Abhilfe hat er nicht, „wir leben hier in einer schmutzigen Situation, ich sehe kein Morgen, es ist unmöglich, dass sich hier in Neapel wirklich was bessert“: Und die junge Mutter, die mit Kinderwagen vorbeihetzt, spricht nur von Desaster, Tragödie. Eigentlich müsste sie auf der Arbeit sein – doch sie hütet die Tochter. Der Kindergarten ist geschlossen.

„Misstrauen“ ist auch das Wort, das Vittorio Passeggio in Scampia immer nutzt. Klein, drahtig, tief braun gebrannt ist Passeggio. In dem Viertel, das als Drogen-Hochburg der Camorra traurigen Weltruhm erlangte, ist er seit Jahrzehnten im Bürgerkomitee aktiv. Gleich hinter den berüchtigten „Vele“ – den zum Drogenumschlagplatz gewordenen Wohnkasernen – setzen sich ein paar Jungs gerade auf offener Straße einen Schuss, während die Polizisten, die nur 20 Meter weiter den Verkehr kontrollieren, gezielt wegschauen. Das ist normal in Scampia. Ebenso die Tatsache, dass nachts die Müllhaufen brennen. Passeggio erzählt, dass sie jetzt Wachen eingeteilt haben, um das zu verhindern, „schließlich stinkt das nicht nur infernalisch, sondern beschert uns auch eine höchst gefährliche Dioxinbelastung“. Obwohl auch sein Stadtteil im Müll versinkt, versteht er die Menschen aus den Gemeinden der Region, die nach Neapel gekommen waren, um gegen die Errichtung neuer Müllkippen, neuer Verbrennungsanlagen zu protestieren. „Ich war neulich auch auf einer Demo. Wir waren Tausende, aus ganz Kampanien. Ich habe den Verdacht, dass der Müll-Notstand jetzt wieder künstlich geschürt wurde, damit die ihre Müllpolitik dann einfach durchziehen können.“

Michele Bonomo, Chef der Umweltorganisation Legambiente in Neapel, entschuldigt sich sofort dafür, dass der Espresso in seinem Büro aus dem Plastikbecher kommt. Die Kaffeebar gegenüber ist zu anderen Lösungen einfach nicht zu bewegen. Und damit ist er auch schon beim Problem. „Müllnotstand herrscht hier seit 13 Jahren. Vorher kommandierte die Camorra – und sie hat halb Kampanien in eine illegale Müllkippe verwandelt, hat Millionen Tonnen auch von hochgiftigen Industrieabfällen in der Region verbuddelt.“ Dann, 1994, übernahm der Staat – und war zu tragfähigen Lösungen unfähig. Jeder Vorschlag verlor sich im Dschungel politischer Kompetenzen oder scheiterte am Widerstand der Bürger. „Mülltrennung wird in Kampanien nur von einigen Dörfern und Kleinstädten erfolgreich praktiziert.“ Zudem verdiene die Camorra am Müll weiter viel Geld, kaufe etwa gezielt Grundstücke auf, wo dann Millionen gepresster Müllballen „provisorisch“ über Jahre gelagert werden. Bonomo findet das Misstrauen, an dem die Projekte für den Bau neuer Müllverbrennungsanlagen wie für neue Deponien stets scheitern, nur zu verständlich. Terzigno sei so ein Fall, direkt am Vesuv. Da soll jetzt eine Kippe entstehen, mitten im Naturpark.

Gelangweilt lümmeln wohl 20 Polizisten vor den Mannschaftswagen auf der kleinen, adretten Piazza von Terzigno rum. Sie sollen die Situation in dem Dorf unter Kontrolle halten. Im Hintergrund erhebt sich mächtig der Kegel des Vesuvs, das zersiedelte Dorf selbst ist eine einzige Bausünde – die Deponie aber soll im unkontaminierten Grün entstehen, am Hang des Vulkans. Frisch rasiert, das blau-weiße Hemd makellos gebügelt, hat der schlanke, alerte Vincenzo Aquino für jeden auf der Piazza ein „Ciao“ und je nach Vertrautheit einen Händedruck oder ein Küsschen auf die Wangen parat. Er ist Chef der Linksdemokraten im Dorf – ebenjener Linksdemokraten, deren Parteimitglied Antonio Bassolino die Region regiert und jetzt Terzigno mit der Deponie beglücken will. Aquino findet, dass das Müllproblem schon gelöst werden muss, er nickt nur mit dem Kopf rüber zu dem stinkenden, faulenden Haufen, der sich am Straßenrand erhebt. „Aber bitte nicht bei uns“, setzt er sofort nach. Jede Menge illegaler Giftmülldeponien gebe es am Vesuv, und jetzt soll noch die legale Müllhalde dazukommen. Stattdessen, meint Aquino, braucht die Region ein „integriertes Entsorgungskonzept“. Wie das aussehen könnte, lässt er offen. Aber um die Mülltrennung, in Terzigno bisher ein Fremdwort, will er sich höchstpersönlich kümmern. Wenn erst einmal die lokale Rechtskoalition abgewählt ist.