Apple der Erkenntnis

Auch ein Laptop kann Liebe schenken: In seinem neuen Roman „Roula Rouge“ verbindet Mathias Nolte eine Amour fou mit Markenfetischismus und einer Kindheit in der DDR

VON JÜRGEN BERGER

Bald wird er fünfzig Jahre alt, und es sieht so aus, als stecke Jonathan Schotter in einer veritablen Sinnkrise. Der Mann ist erfolgreich. Dann allerdings brennt die Frau durch, er muss eine Herzoperation über sich ergehen lassen und verliert seinen Job als Senior Vice President einer Züricher Werbeagentur. Immerhin, da Schotter gut abgefunden wird und prima mit Aktien umgehen kann, hat er immer noch jede Menge Geld (woher sich möglicherweise auch der Name Schotter erklärt). Die neue Berliner Designerwohnung inklusive der Alden-Schuhe aus Pferdeleder sollen es dann aber doch nicht gewesen sein. Dazu ist der Marken-Junkie, der in dieser Hinsicht dem guten alten Patrick Bateman aus Bret Easton Ellis’ Roman „American Psycho“ Konkurrenz machen könnte, noch nicht alt genug. Und dazu liebt er die Frauen zu sehr, besonders wenn sie wie dieses Mädchen in der Berliner S-Bahn aussehen.

Die junge Frau lässt ihren Rucksack mit dem MacBook auf der Sitzbank zurück. Schotter krallt sich den Apple-PC und dringt via Festplatte in ihr Leben ein. Dass diese Roula Rouge und der Mann in der Midlife-Crisis in einer romantischen Liebesgeschichte landen werden, ist von Anfang an klar – obwohl das faszinierende Mädchen mit den brauen Augen und dem wirren Blondhaar wie eine in Punk gegossene Strafe Gottes wirkt. Eine wie sie ängstigt den braven Bürger und will mit schnieken Schwerenötern wie Schotter eigentlich nichts zu tun haben. Bei dem Autor Mathias Nolte, der wegen der Berichterstattung zur vermeintlichen „Sex-Affäre“ des Schweizer Botschafters Thomas Borer als Chefredakteur des Sonntags-Blick zurücktrat und mit „Roula Rouge“ den zweiten Roman vorlegt, verliebt die Titelheldin sich aber doch in den betuchten Wessi – allerdings erst, nachdem Schotter lange am Apple-Baum der Erkenntnis genascht und sich allerlei Gedanken über das wilde Leben eines Mädchens gemacht hat, das mit Haareschneiden Geld verdient und einen gewissen Hang zum Herrn mit grauen Schläfen hat. Dass das so ist, dürfte mit Roula Rouges Vater zu tun haben, der die Familie schon früh verließ und nimmermehr gesehen wurde.

Bis Jonathan seine Roula tatsächlich kennen lernt, liest man die Geschichte der Amour fou mit gemischten Gefühlen. Zum einen wirkt Mathias Nolte im ersten Drittel des Romans wie ein Landschaftsmaler, der mit Farbe nicht umzugehen weiß und von der Angst getrieben wird, künftige Betrachter des Bildes könnten Details übersehen. Also trägt er einzelne Pinselstriche dick auf und betont penetrant Schotters Markenfetischismus. Zum anderen legt er dem gestrandeten Yuppie Sätze wie „Ich sah meine Einsamkeit bedroht“ in den Mund, und so sieht es immer mal wieder so aus, als könne man „Roula Rouge“ getrost in der Schublade entsorgen, in der all der Midlife-Kitsch von Autoren ruht, die kurz vor der Viropause noch mal auf Lolita-Pirsch gehen. Das ist das Einerseits. Andererseits hat Mathias Nolte aber die Gabe, Spannungsknoten derart geschickt zu knüpfen, dass man auf jeden Fall erfahren will, wie das ist, wenn Roula und Jonathan sich begegnen.

Ist es endlich so weit, wartet Nolte mit der nächsten Raffinesse auf und hält in der Schwebe, ob und wie das Mädchen erfährt, dass sie sich in den Dieb ihres Laptops verliebt hat. Vor allem aber beginnt Nolte die Geschichte dieser jungen Frau zu erzählen, die zu Zeiten der DDR vom Vater im Stich gelassen wurde und deren Mutter sich nach der Flucht des Vaters in den Westen auf dem Dachboden erhängte. Solange Mathias Nolte eng an der Familiengeschichte des Mädchens mit dem abwesenden Vater bleibt, ist er ein starker Erzähler. Die Puzzlesteine fügen sich: Roulas Daddy legte sich ausgerechnet in Zürich eine zweite Familie zu und machte Karriere – nachdem er in der DDR mit dem Robotron Z9001 den Prototypen des Home-PC gebaut hatte und mit ansehen musste, dass nicht er, sondern Steve Jobs & Co. in Los Altos das Rennen machten.

Ist auch diese Geschichte erzählt, meint man zu verstehen, warum Noltes Protagonisten Macintosh-Maniacs sind und Jonathan Schotter in jedem zweiten Satz Apple-Produkte erwähnt. Vor allem gegen Ende des Romans hat man es allerdings auch mit einem Erzähler zu tun, der die Fäden seiner Geschichte noch in größter Eile verknüpfen muss und mit der Wendung aufwartet, Roula Rouge habe schon lange gewusst, wer das MacBook klaute. Immerhin schafft es dieser Erzähler aber, dass man sich tatsächlich darüber freut, dass die Liebe wieder einmal stärker ist als alles Böse der Welt. Und man wünscht Roula Rouge, die eigentlich Emma Klein heißt und ihren neuen Namen einem Lied des französischen Sängers Renaud entlehnte, eine gute Zeit. Immerhin hat sie jetzt ja nicht nur einen Gatten mit Schotter, sondern auch einen Papi.

Mathias Nolte: „Roula Rouge“. Deuticke Verlag, Wien 2007, 366 Seiten, 21,50 Euro