FÜR BEQUEM IST NOCH GENÜGEND ZEIT, WENN MAN TOT ODER 35 IST
: Besuch in Utopia

VON ULI HANNEMANN

Ein Sonntagsspaziergang auf dem RAW-Gelände im Friedrichshain. Wir sind überrascht, was hier inzwischen abgeht. Neben einem Areal, das aus unerfindlichen Gründen nur gegen Spenden betreten werden darf, finden sich Trödelmärkte, Biergärten und offene Hallen mit gar nichts drin, was auf eine Art auch wieder interessant wirkt, weil sich jeder fragt: Wozu ist das da? Kommt da noch was rein? Ist das jetzt schon alles?

In den Hallen und dazwischen stehen immer wieder kunstvoll zusammengefügte Palettenstapel, die als Sitzgelegenheiten dienen. Das sieht unbequem aus, aber darauf kommt es nicht an. Hauptsache, es wirkt hip, wie man da mit seiner Granatapfel-Mate die dürren Beinchen quer über die Stufen lagert. Für bequem ist immer noch genügend Zeit, wenn man hinfällig, tot oder 35 ist.

Dimensionen, Atmosphäre und Besucher erinnern an die Kopenhagener Freistadt Christiania, bloß ohne die Tapeziertische mit den Haschklötzen drauf. Eine missbrauchte Utopie, zum Rummelplatz verkommen. Immerhin das kann man dem RAW-Gelände nicht vorwerfen, eine Utopie mit Tiefe hat’s hier nie gegeben.

Höhepunkt der Hipness ist der „Village Market“ am hinteren Ende des Komplexes. Hier gibt es „Street Food“, ursprünglich ein Begriff aus der Forstwirtschaft, der überfahrene Wildtiere auf Schnellstraßen bezeichnet, an denen sich die Bussarde delektieren. Doch längst haben ihn die Hipster für sich gekapert. Street Food, Food Art, Food Culture und Food-Start-ups verleihen der guten alten Imbissbude neuen Glanz, statt Pommes Schranke warten Buchweizen-Dumplings auf ein auffällig junges Publikum.

Eine Kaste für sich: deutsche New-York-Fans

In einer Ecke stinkt es nach einem Buttersäureattentat, doch dann sind es nur Schweizer, die mit ihrem Raclette vergeblich auf brechreizresistente Kundschaft warten. Ich werde für ein Pastrami Sandwich fremdentschieden, obwohl man das „eigentlich in New York essen“ müsse, sagt meine Freundin, die normalerweise schwer in Ordnung ist, aber neben anderen kleinen Schwächen leider auch die weit verbreitete New-York-Meise innehat.

Deutsche New-York-Fans sind ja eine Kaste für sich. Selbst Leute, die kaum Socken zu kaufen in der Lage sind, raunen den Namen der Stadt derart ehrfürchtig, als könnten bei unvorsichtiger Aussprache die Silben zerbrechen, und gleichzeitig mit einer Arroganz, die impliziert, dass, wer noch nicht in „NYC“ gewesen, ein weltfremder Wurm und als solcher quasi überhaupt nicht lebensfähig wäre. Um ihre Kompetenz zu unterstreichen, schwärmen sie mit prätentiös gespitztem Mündchen von den großartigen Sandwiches von „Rothstein’s Bagles“ an der „Corner 8th Dings und 4th Bums“ und loben mit vor Begeisterung bebender Stimme die einzigartige Mentalität der New Yorker (die dabei einfach nur für amerikanische Verhältnisse grotesk unfreundliche Arschlöcher sind, wie auch schon die Berliner im innerdeutschen Vergleich).

Auch vor dem Food-Gedöns warten wieder die obligatorischen Palettenstapel. Das Gesamtkonzept hat etwas von einem Zoo, wo man Klettergerüste errichtet und Autoreifen aufhängt, um die Affen zu beschäftigen, weil sie andernfalls Neurosen entwickeln, die schnell zu Aggression und Autoaggression führen. Entsprechend halte ich den Zirkus hier durchaus für eine gute Einrichtung. Die Leute sind in einem abgegrenzten Bereich aufgehoben, werden betreut und haben Spaß, ohne woanders öffentliches Straßenland zu verunreinigen sowie Einheimische zu belästigen.

Doch darüber hinaus ist mir der Sinn der Anlage noch nicht richtig einsichtig. Ich spiele mit dem Gedanken, an einem anderen Tag bekifft wiederzukommen, um solchermaßen erkenntnismodifiziert womöglich irgendeine Metaebene zu entwickeln. Straighte Menschen fragen ja gerne mal nach dem grundsätzlichen Wert von Drogen, weil sie das Konzept dahinter nicht verstehen. Hier ist es: Drogen helfen dem Gehirn, seine immanent faschistoiden Funktionsstrukturen zugunsten einer flexibleren Wirkungsweise aufzugeben, die Wahrheiten entdecken lässt, wo keine sind.

„Hm. Könnte man stattdessen nicht auch einfach gar nicht hingehen?“, würden nun die naseweisen Straighten fragen. Klar, könnte man auch.