Ganz normales Plattengeschäft

Die Einrichtung „Barner 16“ bildet Menschen mit Handicap zu Musikern aus. Dort proben in der Band „Station 17“ Behinderte und Nichtbehinderte zusammen. Im Vordergrund steht aber für alle Beteiligten die Musik, nicht die Pädagogik

„Warum ein Leben lang Adressen sortieren? Ich hab viel Besseres zu tun.“

VON JASMIN KLOFTA

„Ruhe bitte“, ruft Christian Fleck den Bandmitgliedern zu. In dem Raum mit weiß gestrichenen Backsteinwänden machen unter dem Namen „Station 17“ sowohl Menschen mit geistiger Behinderung als auch solche ohne zusammen Musik. „Andy, was hast Du eben über Marcs Klamotten gesagt?“, fragt Betreuer Fleck den Sänger Andy Lehrke. „Der hat ’ne schicke Hose an und schicke Schuhe“, antwortet dieser. Fleck, der für das Sounddesign zuständig ist, nickt dem 38-Jährigen mit Downsyndrom zu: „Gut, das nehmen wir als Liedtext. Der Grundton ist A.“

Und schon dreht Fleck die Regler seines Mischgerätes in der Ecke auf und schickt dröhnende Bässe durch den Proberaum. Zum Clubsound schichten sich intuitiv Melodien und der Liedtext. Das Bandkonzept heißt Improvisation: „Wir machen keinen geradlinigen Song, sondern stellen Atmosphäre her“, erklärt Fleck später. „Es ist ein anderes Arbeiten“, fügt Schlagzeuger Tobias Bade hinzu. „Diese Menschen sind frei von Strukturen wie Strophe, Refrain oder Solo. Das macht sie spontan.“

Kai Boysens Kopf nickt im Takt. Der 46-jährige Gründer von „Station 17“ im blauen Fleecepulli und Jeans blickt in die Runde. Ein bisschen stolz ist er schon, denn er schaut hier auf fast 20 Jahre Engagement: Seit Anfang der 80er Jahre ist er Mitglied der Hamburger Band „Painless Dirties“, kann davon aber nicht leben. Abhilfe sollte seine Erzieherausbildung schaffen.

Er beginnt, in Alsterdorf in einer Wohngruppe mit behinderten Menschen zu arbeiten. Dort kommt ihm 1988 die Idee, eine Band aus Musikern mit und ohne Handicap zu gründen. Er benennt sie nach der Wohngruppe: Station 17. Was für ihn als Nebenprojekt beginnt, nimmt bald mehr Zeit in Anspruch. Alle Welt beginnt, sich für die Musik der ungewöhnlichen Band zu interessieren: Station 17 spielen auf großen Musik-Festivals und touren durchs europäische Ausland. Trotz des Erfolgs reicht das Geld nicht, Boysen muss weiterhin als Erzieher arbeiten. Für das folgende Sozialpädagogik-Studium beantragt er Bafög. „Ich habe mich aber immer als Musiker und nie als Erzieher gefühlt“, sagt er.

Wohl deshalb sieht der Gründer sein Musikprojekt als „ganz normales Plattengeschäft“. „Anders als bei anderen Bandprojekten mit Behinderten machen wir den professionellen Schritt: Wir veröffentlichen Platten und gehen auf Tour. Das ist einzigartig in Deutschland“, sagt er. „Bei uns steht die Musik im Vordergrund, nicht die Pädagogik.“

„Station 17“ kann auf eine lange Liste von Kooperationen mit bekannten Musikern aus den unterschiedlichsten Musiksparten zurückblicken. Für die aktuelle Kooperations-Serie „Goldstein-Variationen“, von der im Juni die erste Aufnahme herauskommt, wird „Band 17“ mit bekannten Bands wie „Fettes Brot“, „Stereo Total“ und den „Goldenen Zitronen“ spielen.

Trotz der musikalischen Professionalität erfüllt das Projekt sozialpädagogische Ansprüche. Denn bei „Station 17“ bringen sich viele ein, die vorher als nicht integrierbar eingestuft wurden. „Sie galten als nicht werkstattfähig oder vielleicht auch irgendwie ‚verrückt‘“, erinnert sich Boysen. „Eigentlich waren sie aber von ihrem ganzen Ansatz her Künstler.“ Besonders denkt er dabei an Michael Schlappkohl, der vor zwei Jahren starb. „Er war der Paradefall für einen Menschen mit Downsyndrom“, erklärt Boysen. „Schlappi hat wirklich nur das gemacht, wozu er Lust hatte. Wenn er wollte, hat er sich mitten auf die Straße gesetzt und ist dort geblieben, bis er weggetragen wurde.“ Als sich „Schlappi“ aber für das Projekt entschied, wurde er nicht nur zum Frontmann, sondern auch zum heimlichen Star der Band.

Ihr stetiger Erfolg bewirkte, dass das Projekt vor sieben Jahren als offizielle Behindertenwerkstatt „barner 16“ in die Trägerschaft der „Alsterarbeit GmbH“ eingegliedert wurde. Seitdem entwickelten sich in der Barnerstraße 16 weitere Kreativprojekte von und mit Behinderten.

Im Mittelpunkt steht dabei immer das Konzept der Integration: „Egal ob Lernbehinderung oder Schwerstmehrfachbehinderung, bei uns findet alles miteinander statt“, sagt Boysen. Auch das Konzept der Integrationsschulen befürwortet er. Es gehöre zu den positiven Auswirkungen dieser Schulen, dass Behinderte heute überhaupt das Musizieren als Berufswunsch in Betracht ziehen.

Wie zum Beispiel Turia Reimers, die Sängerin werden will. Nach dem Hauptschulabschluss kam sie vor zwei Jahren in die Barnerstraße 16. Weil sie wegen ihrer körperlichen Behinderung nur einen Finger heben kann, sollte sie Adressen sortieren. „Aber warum soll ich das mein Leben lang machen? Ich habe doch viel Besseres zu tun!“, sagt die 21-Jährige und lacht. Zweimal die Woche probt sie mit einer Gesangslehrerin in der „Barner 16“, dazwischen übt sie alleine mit dem CD-Player im Bandraum.

„Station 17“ ist eigentlich keine richtige Band. Mit zwölf Stammspielern ist das Projekt vielmehr eine Idee, die in immer neuer Konstellation weiterlebt. Das musikalische Spektrum reicht deshalb von Funk über Hip-Hop bis zu Elektro. Boysen und auch die anderen Bandmitbegründer haben sich inzwischen vom aktiven Bandleben verabschiedet.

„Wir sind nun alle über 40 Jahre alt. Damit die Idee von ‚Station 17‘ nicht einschläft, muss eine neue Generation ran“, sagt Boysen. „Heute bin ich eben doch an erster Stelle Sozialpädagoge und dann erst Musiker.“