Artilleriegranaten im Minutentakt

Im Libanon wächst die Befürchtung, eine blutige Erstürmung des palästinensischen Flüchtlingslagers Naher al-Bared durch die Armee könnte bevorstehen. Auch der PLO-Beauftragte vor Ort fordert die Kämpfer von Fatah al-Islam zur Aufgabe auf

VON KARIM EL-GAWHARY

Bereitet die libanesische Armee den Sturmangriff auf das Palästinenserlager Naher al-Bared vor? Viele Anzeichen deuten darauf hin. Mehr als zwei Wochen seit dem Beginn der Kämpfe zwischen der Armee und den im Flüchtlingslager verschanzten Kämpfern der radikalen Islamisten Gruppe Fatah al-Islam hat die Armee die Siedlung im Norden des Landes gestern verstärkt unter Beschuss genommen. Zum Teil schlugen die Artilleriegranaten dort im Minutentakt ein. Mehrere dutzend Panzerfahrzeuge wurden näher am Lager in Stellung gebracht. Journalisten wurden von den Lagereingängen ferngehalten.

Die Armee wies zurück, dass es sich bei dieser Operation um eine Vorbereitung zum Sturm des Lagers handele. Nach Armeedarstellung ist der Beschuss nur eine Reaktion auf mehrere Scharfschützen der Fatah al-Islam, die am Morgen das Feuer auf die Soldaten eröffnet hatten.

Am Tag zuvor hatte der libanesische Stabschef Michel Suleiman die Stellungen der Soldaten besucht und erneut bekräftigt, dass die verschanzten Kämpfer zur Rechenschaft gezogen werden. „Hier geht es nicht um Kämpfer, die der gerechten palästinensischen Sache dienen, sondern um eine kriminelle Gruppe“, erklärte Suleiman vor Journalisten. „Viele, die in den letzten Tagen von der Armee verhaftet wurden, waren nicht Palästinenser, sondern terroristische Söldner“, fügte er hinzu.

Seit Ausbruch der Kämpfe wurden bisher rund 80 Menschen getötet, darunter 32 Soldaten. Von den rund 40.000 Bewohnern des Lagers sollen sich noch etwa 6.000 dort aufhalten. „Ein Sturm wäre ein schwieriges Unterfangen, da sich die Kämpfer in den Häusern rund um die engen verwinkelten Gassen des Lagers verbarrikadiert haben und es nicht möglich ist, schweres Gerät dorthin zu schaffen“, meint der libanesische Militärexperte Elias Hanna im arabischen Sender al-Dschasira. Zwar befänden sich gut ausgebildete Eliteverbände der Armee vor Ort, deren Ortskenntnisse seien allerdings begrenzt.

Alle Vermittlungsversuche, um ein Blutbad zu verhindern, sind bisher gescheitert. „Wir sind noch in – wenngleich schwierigen – Gesprächen“, hatte noch am Donnerstag der islamische Geistliche und Chefunterhändler Muhammad al-Hajj versucht Gerüchten entgegenzusetzen, dass die Verhandlungen inzwischen abgebrochen seien. Aus Kreisen der Armee heißt es aber, man werde nicht ewig abwarten, wenn sich die Vermittlungsversuche als fruchtlos erwiesen. Bisher haben sich die Kämpfer geweigert, den Forderungen zum Aufgeben nachzukommen. Mehr als 20 in den letzten zwei Wochen verhaftete Kämpfer wurden bereits angeklagt, Mitglieder einer terroristischen Gruppe zu sein. Eine Anklage, auf die im Libanon die Todesstrafe steht.

Seit Tagen mehren sich auch die Spekulationen, dass Kämpfer anderer palästinensischer Gruppen mit guten Ortskenntnissen der Armee beim Sturm des Lagers zur Seite stehen könnten. Nach einem Abkommen zwischen der libanesischen Regierung und der PLO von 1969 ist es der libanesischen Armee untersagt, die zwölf Palästinenserlager des Landes zu betreten. Doch der libanesische Premier Fuad Siniora und Abbas Saki, der oberste PLO-Funktionär im Libanon, hatten sich am Donnerstag zum wiederholten Male getroffen, um einen Ausweg aus der Krise zu finden. Auch Saki forderte die Fatah-Al-Islam-Kämpfer zur Aufgabe auf. Die humanitäre Lage im Lager werde verzweifelter. „Zahlreiche herumliegende Leichen beginnen zu verwesen“, erklärte Saki und versprach, mit der libanesischen Regierung bei der Lösung der Krise an einem Strang zu ziehen.