Tja, Freimarkt (9): Erika Mühsam
: Menschliche Monstra

Einmal im Jahr ist Freimarkt – aber muss man darüber schreiben? Kommt auf die Perspektive an, beweist die taz.bremen-Serie.

Gestern war ich mit U. auf dem Freimarkt. Ein kolossaler Betrieb. Es mögen wohl an hunderttausend Menschen da draußen gewesen sein. Ich bin gern, wo sich die Menge drängt. Der Hässliche wird dann so unpersönlich und hilft zur Schönheit einer gewaltigen Ganzheit.

In ein paar Bierzelten sahen wir menschliche Monstrositäten. Einen Menschen in Lederhosen, der ein ganzes Publikum vorführte, das doch recht widerlich wirkte, besonders als es unmögliche organe Verse wie „Ein Prosit, ein Prosit der Gemütlichkeit“ vortrug. In einem anderen Zelt war ein Kerl zu sehen, „halb Mensch, halb Kamel“. Dies galt indessen nicht für sein Aussehen, sonst hätte man kaum gewagt, ihn als Außergewöhnlichkeit zu demonstrieren, sondern für seine Intellektualität. Er hatte nämlich sich einen herrlichen Rausch angesoffen, weshalb er den Gang zum Abort verpasst hatte und seine Hosen einen gelbbraunen Ton angenommen hatten. Interessiert hätte mich, wie der gute Mann wohl später heimgekommen ist.

Im selben Zelt sehn wir dann später einen „Comedian“, das war ein puppenhaft angestrichenes schandhässliches Wesen, das breitbeinig, unbeweglich und mit verglasten Augen dastand, auf die Faxen des Conferenziers hin groteske Bewegungen mit Armen und Oberkörper vollführte, genau wie aufgezogen, marschierte wie die Blechfigürchen, die man laufen lassen kann, kurz: man war durchaus im Zweifel, ob es ein Mensch oder ein Automat war, und der starre Ausdruck der Augen, der auch, als ein Stab bis dicht davor und darüber hin und her bewegt wurde, unbewegt blieb, benahm fast jeden Zweifel, dass es sich um eine Maschine handelte. Nach einigen belebenden Fisimatenten des Dompteurs jedoch bekam das Instrument plötzlich Bewegung, klappte die Augen auf und zu, verbeugte sich und erklärte höchstselbst, dass er jetzt Ansichtskarten verkaufen werde, was er auch tat. Dann stellte er sich wieder breitbeinig hin, klappte die Augen zu einer blöden Starrheit hoch und war wieder Puppe. Die abgegebene Erklärung, dieses Monstrum sei der einzige Mensch, der fähig sei, sich aus eignem Willen selbst zu hypnotisieren, ist natürlich Unsinn. Die Kunst des Mannes besteht darin, dass er die Augenmuskeln beherrscht, um jedes Zwinkern abstellen zu können, ferner dass er die Glieder steif und automatisch zu bewegen vermag. Zudem ist er so vortrefflich ekelhaft geschminkt, dass die Illusion einer Wachsnachbildung völlig erreicht wird. Was für Existenzen!

Ich fragte mich nachher, was wohl einst aus solchen Menschen wird, die durch vollkommene Verblödungen zu Ungeheuern wurden, wenn die Jagd nach dem Brot kein Erfordernis einer schuftigen Gesellschaftsordnung sein wird. Ob sie auf ihre Missratenheit so eitel sein werden, dass sie sich doch zur Schau stellen werden? Und ob die Menge auch dann noch gierig hinterherlaufen wird, wo solche Monstra zu sehn sind? Wer kann das entscheiden? Ich muss mich schütteln, wenn ich dergleichen gesehen habe, um den eklen Eindruck loszuwerden. Die Vielen schütteln sich auch, aber sie empfinden ein Grauen, das einer Art Wollust verdammt ähnlich ist.