Aufbruch im Kittel

Das „Endspiel“ geht weiter: Jan Bosse konkretisiert Beckett am Deutschen Theater zum Psychodrama

Am Ende der Inszenierung staunt man zum ersten Mal an diesem Abend – denn eine Beckett-Figur befreit sich aus den Verhältnissen und verlässt die Bühne. Jan Bosse hat Becketts „Endspiel“, das am Samstag im Deutschen Theater Premiere hatte, so grundsätzlich umgearbeitet, dass sogar eine Flucht oder zumindest ein Aufbruch ins Ungewisse möglich wird.

Bislang kannten wir „Endspiel“ als ein Drama, in das man das Leben nach dem Atomkrieg hineinlesen konnte. Hamm, ein blinder Mann, dessen Beine gelähmt sind, so dass er in einem kleinen Rollstuhl sitzen muss, lässt sich von Clov bedienen. Wenn Clov gehen will, sagt Hamm ihm, dass er nicht überleben würde. Clov glaubt ihm. Zuletzt täuscht er lediglich vor, gegangen zu sein.

Bei Jan Bosse geht er. Bosse hat das Stück radikal verschlankt, selbst dem improvisierten Rollstuhl, in dem Hamm sitzt, fehlen die Räder. Dafür hat er den verbleibenden Rest des Stückes gewissermaßen verdickt, er lässt seine beiden Schauspieler Ulrich Matthes und Wolfram Koch sprechen, als handele es sich bei Beckett-Stücken um psychologisches Drama à la Arthur Schnitzler. Er lässt sie die Sätze dehnen, lässt sie stottern, um Wörter ringen, andererseits aber gebietet er seinen Schauspielern, die Sätze schnodderig auszusprechen, Wörter wie „Denkste“ zu sagen, die der Kunstsprache Becketts eine menschliche Note geben. Wenn sich dann doch einer jener schönen, in der Alltagssprache aber ungewohnten Konjunktive aus Elmar Tophovens Übersetzung in Bosses Version erhalten hat, klingt das wie eine Fremdsprache. Matthes und Koch müssen, um in ihrer Rolle zu bleiben, die Konjunktive besonders hervorheben. Jeder Konjunktiv wird zum Lacher.

Apropos Rolle: Ulrich Matthes, der Hamm spielt, trägt eine verspiegelte Sonnenbrille und einen silbernen Anzug, der ihn leuchten lässt wie eine Diskokugel. Wolfram Koch, der den Clov mit viel Körpereinsatz gibt, trägt eine Kittelschürze. Bosse muss, was bei Beckett recht allgemein als Double-Bind-Verhältnis von Herr und Diener beschrieben ist, unbedingt konkretisieren; heraus kommt das, was Heiner Müller den für Westdeutsche einzig verbliebenen Kriegsschauplatz nannte, der Konflikt zwischen Mann und Frau. Dass „Endspiel“ ein Spiel nach dem Menschheitsende ist, betont der Beginn des Stückes, ein Scheinwerfer blendet uns, das Publikum, erst wenn er verloschen ist, sehen wir die Bühne. Stéphane Laimé, der Bühnengestalter, hat so den atomaren Lichtblitz einfach mit auf die Bühne gebracht.

Auch der Umstand, dass sich die Figuren bei Beckett ihrer Theaterrollen bewusst sind („Hamm [zornig]: Ein Beiseite, du Trottel! Ist es das erste Mal, dass du ein Beiseite hörst? [Pause.] Ich rüste mich zum letzten Monolog.“), wird zum öden Repertoiregag, wenn etwa Clov seinem Herrn mitteilt, während er ins Publikum zeigt, dass er nicht mehr bereit sei, sich „diese Scheiße da“ länger anzusehen.

Becketts Stück gab und gibt Rätsel auf. Wie das Programmheft weiß, weigerte sich Beckett, Lösungen anzubieten. Umso irritierender ist es, dass Bosse just dies tun will, dass er Hamm und Clov wie ein altes Liebespaar inszeniert, dass er versucht, diesen Figuren, die keine Tiefe haben, Charakter zu verleihen. Da auch Koch und Matthes flapsig vor sich hin spielen, werden die anderthalb Stunden Psychodrama sehr lang. JÖRG SUNDERMEIER

Weitere Aufführungen: 7., 13. und 22. Juni