„Der Fremde kann auch unser Nachbar sein“

„Schöne Fremde“ lautet das Motto des 24. Norddeutschen Theatertreffens in Göttingen, das noch bis Montag Stücke aus Metropolen und Provinz präsentiert und auch Diskrepanzen im Budget nicht verschweigt. Leiter Mark Zurmühle nennt die Gründe

MARK ZURMÜHLE, 54, Schauspieler und Regisseur. Engagements führten ihn nach Berlin, Basel und Mannheim. Seit 1999 leitet er das Deutsche Theater Göttingen.

taz: Warum ist für Sie das Fremde schön? Ist das nicht ein romantisierender Blick auf vermeintlich Exotisches?

Mark Zurmühle: Exotik meinen wir mit unserem Motto gar nicht. Natürlich nehmen wir auch fremde Kulturen in den Blick. Aber wir wollen auch auf den Menschen schauen – insbesondere auf Verhaltensweisen, die uns fremd sind. Das können Menschen aus einer anderen Kultur sein. Vielleicht stammen sie aber auch von den Rändern unserer Gesellschaft. Der Fremde – das kann auch unser Nachbar sein. Das kann jeder von uns sein, der sich im Kleist’schen Sinne fremd fühlt in dieser Welt.

Wenn Sie Fremdsein so allgemein fassen: Hätte man dann nicht die Texte über Selbstmordattentäter und den Nahost-Konflikt herauslassen sollen?

Ja, vielleicht. Andererseits interessieren uns auch die Dinge, die derzeit öffentlich diskutiert werden. Lutz Hübners Ehrenmord-Stück wurde ja fast verboten, und wir hatten Glück, dass wir es zeigen durften. In solchen Statements sehe ich die letzte Chance, auch politisch etwas auszudrücken.

Aber die große politische Provokation bietet Ihr Programm ja nicht.

Doch. Wajdi Mouawads „Verbrennung“ ist hoch provokativ, weil es die Lage im Libanon scharf anhand von Einzelschicksalen beschreibt.

Angesichts solcher politischer Intentionen wirkt „Rock op Platt“ dann ja wieder recht folkloristisch...

Dieses Stück bietet bekannte Rocksongs auf Plattdeutsch. Und ich finde es immer wieder eindrucksvoll zu sehen, wie viele Menschen solche Dialekte als sehr fremd empfinden.

Wollen Sie diese aussterbenden Sprachen wiederbeleben?

Sie sollten jedenfalls nicht verloren gehen. Sie sind Ausdruck einer bestimmten Region, und das sollte man nicht verschwinden lassen.

Was qualifiziert eine Inszenierung überhaupt für das norddeutsche Theatertreffen? Die Tatsache, dass sie es nicht nach Berlin geschafft hat?

Nein. In Berlin geht es um Elite. Wir aber wollen möglichst viele norddeutsche Theater vorstellen, die mit sehr unterschiedlichen Budgets arbeiten. Wir wollen zeigen, dass das Hamburger Thalia da ist, aber auch eine kleine Bühne aus Parchim oder Anklam, die am Rande ihrer Existenz arbeitet und einen unglaublichen Idealismus aufbringt.

Erfährt das Festivalpublikum von dieser Diskrepanz?

Ja. Jedes Theater wird mit Budget, Reichweite und Programm in einer Einführung vorgestellt.

Für den Fall, dass das Theatersterben auch im Nordosten weitergeht: Ist das norddeutsche Theatertreffen als Forum zur eventuellen Lobbybildung gedacht?

Auf jeden Fall. Und das Problem ist virulent. Einige kleine Häuser wollten zunächst nicht kommen, weil sie den Verdienstausfall fürchteten, wenn sie daheim weniger Vorstellungen gäben. Wir haben dann eine Lösung gefunden, und bis auf ein Haus sind alle gekommen.

Wenn Göttingen also einen Blumenstrauß norddeutscher Stücke zeigt: War Qualität kein Kriterium?

Doch. Wir wollen niveauvolle Stücke zeigen. Und der Stadt Göttingen wollen wir zeigen, dass es neben der hiesigen noch andere Theatersprachen gibt.

Und? Gibt es eine norddeutsche Theatersprache?

Ich weiß nicht. Ich habe vor allem den Eindruck, dass wir sehr temperamentvolle Aufführungen eingeladen haben, die das Vorurteil des spröden Norddeutschen in keiner Weise bedienen. Aber das kann natürlich an unserer Auswahl liegen.

INTERVIEW: PETRA SCHELLEN

Weitere Informationen unter www.norddeutsches-theatertreffen.de