Die radikalen Dinge

Diese Gefühle dürfen kein Ende nehmen: Das großartige Konzert von Scout Niblett im vollen Café Zapata

Das Café Zapata im Tacheles ist ein komischer Laden. Einstmals Kulturoase in Trümmerlandschaft, ist es inzwischen ein Relikt der Nachwendezeit mit scheußlicher Kunst an den Wänden und einem Hang zu tragischer Singer/Songwriter-Musik mitten in der touristischen Zone.

Am Sonntagabend war Scout Niblett zu Gast. Scout Niblett, die eigentlich Emma Louise Niblett heißt, ist in Nottingham geboren und in die USA gewandert. Sie nennt sich nach einer Figur aus dem großen Roman von Harper Lee, „To Kill a Mockingbird“, Scout. Die blonde Perücke, die sie oftmals auf Konzerten getragen hat, ist diesmal zu Hause geblieben, dafür hatte sie einen kleinen Stoffaffen dabei und meterlange Perlenketten. Ihr Schlagzeuger Kristian Goddard trug ein Ringelshirt und hielt sich wortlos im Hintergrund.

Das Konzert von Scout Niblett war schlicht großartig. Hier herauszustellen, was das Einzigartige an Frau Nibletts Musik ist, ist nicht einfach. Die schwierigen Harmonien, die Laut-leise-Wechsel, der Einfluss von Blues und Grunge, die Emotionalität der Stimme: Die Bestandteile ihrer Musik kennt man schon irgendwo anders her. Die üblichen Referenzen lauten Cat Power und PJ Harvey. Letztere hat ihre frühen Platten auf Nibletts jetzigem Label Too Pure veröffentlicht, neben 4AD dem englischen Label mit den wagemutigsten Platten, weil sie nichts mit irgendwelchen Britrockhypes zu tun haben. Auch PJ Harvey hat ihre intensivste Platte („Rid of Me“) vom Haudegen und Verstörungsspezialisten Steve Albini produzieren lassen. Scout Niblett vertraut bereits seit zwei Platten auf dessen Arbeit, auch für ihr demnächst erscheinendes Album. Für Reduktionismus ist Albini eben der geeignete Mann.

Niblett hat nämlich nicht viel mehr als ihre Stimme, die zwischen betonter Akzentuierung, Halbschreien und Herumspucken variiert (manchmal erinnert sie an Janis Joplin ohne deren Whiskeyseligkeit), ihrer Gitarre, die sie mit Distortion spielt oder eben ohne, und eben Kristian Goddard. Auch ihre Texte bemühen sich, die einfachen, radikalen Dinge zu sagen: Zwischen „Honey, you’re so good to me“ und „We all are gonna die, we don’t know when, and we don’t know how“. Interessant ist, dass ihr neues Material um einiges poetischer und vielsagender geworden ist. Plötzlich werden Geschichten erzählt. An den leiseren Stellen versteht man jedes Wort. „I heard there’s a city called Heaven/ I wanna make it my home.“

Nach so viel Leidenschaft, Anmut, Verschrobenheit und der Anrufung großer Gefühle verzieht Scout Niblett den Mund und guckt ernst. Dann tritt sie auf den Verzerrer und schreit, bevor es wieder leise wird. Am Ende gibt es zwei Zugaben, bevor Emma Niblett auf der Bühne Werbekram aus einem Karton heraus verkauft, eine davon besteht aus „Miss My Lion“, ihrem großartigsten Stück, das man nach Belieben interpretieren darf: „I heard it all, but I still reach out.“ Diese Gefühle dürfen kein Ende nehmen.

RENÉ HAMANN