Das Hallen der Pfiffe am Court Central

Maria Scharapowa bekommt den Unmut des Pariser Publikums zu spüren. Das war nie zimperlich und oft nachtragend

PARIS taz ■ Eigentlich sind sie wie füreinander gedacht, Maria Scharapowa und die Pariser Tennisfans. Wenn die eine auf endlos langen Beinen mit der Attitüde eines Filmstars durchs Leben stolziert – elegant, provozierend selbstbewusst –, dann erinnert das nicht wenig an die Art, wie sich die anderen bisweilen durch die Straßen ihrer Stadt bewegen. Ein bisschen von ihr steckt auch in ihnen. Aber oft ist es ja so, dass man das eigene Verhalten an anderen überhaupt nicht mag.

Als Scharapowa am Sonntagabend nach dem ereignisreichen Spiel gegen Patty Schnyder den Court Suzanne Lenglen winkend und glücklich über einen hart erkämpften Sieg (3:6, 6:4, 9:7) verließ, da übertönten Pfiffe fast den Beifall. Das war selbst Schnyder zu viel, die den Finger auf die Lippen legte und so um Milde bat. Von Beginn an war das Publikum auf Schnyders Seite gewesen, doch die Empörung entzündete sich an einer Szene im dritten Satz beim Stand von 7:7. Während eines Aufschlages von Scharapowa rief ein Zuschauer „Allez, Patty“, die hob daraufhin die Hand zum Zeichen, dass sie sich gestört fühle und ließ den Ball ohne zu schlagen passieren. Punkt für Scharapowa, Schnyder reklamierte, doch der Schiedsrichter bestätigte, das entspreche den Regeln. Von diesem Moment an hatte die Russin einen schweren Stand; offensichtlich erwarten die Leute, sie solle anbieten, den Aufschlag zu wiederholen, doch sie dachte nicht daran. Ihr Kommentar dazu: „Es ist ziemlich schwer, zur gleichen Zeit Tennisspielerin und Mutter Theresa zu sein.“

Keine Frage, dass sie das Spiel nach Abwehr zweier Matchbälle vor allem deshalb gewonnen hatte, weil sie allem Gehabe zum Trotz eben kein Pin-up-Girl, sondern eine Frau mit unglaublichem Kampfgeist, mit einer faszinierend großen Dosis Mut ist. Also Schwamm drüber und volle Kraft voraus ins Viertelfinale gegen Anna Tschakwetadse, eine weitere aufstrebende Russin? So leicht wird ihr das Publikum das Vergessen nicht machen. Denn die Fans im Stade Roland Garros haben ganz eigene Vorstellungen, wer ein Spiel gewinnen soll, und bisweilen fragwürdige Mittel, ihre Präferenz zu demonstrieren. Sie sind auch ausgesprochen nachtragend. Maria Scharapowa wird es bis zum Ende des Turniers nicht leicht haben.

Vielleicht sollte sie sich bei Serena Williams erkundigen, um gewappnet zu sein. Es ist ein kurioser Zufall, dass die Setzliste eine Konstellation ergibt, die eine Erinnerung an die Macht des Publikums geradezu beschwört, die Begegnung zwischen Williams und Titelverteidigerin Justine Henin. Vor vier Jahren hatten sich die beiden schon mal auf dem Court Central getroffen. Serena Williams war damals auf dem Weg zum fünften Grand-Slam-Titel in Folge, galt als unbestrittene Nummer eins und große Favoritin. Dummerweise hatte sie zuvor im Viertelfinale gegen Amélie Mauresmo den Fehler gemacht, die Französin mit Blicken schier töten zu wollen. Mauresmos Spiel war angesichts der unübersehbaren Aggression in seine Einzelteile zerfallen, und das Publikum behandelte Serena Williams in der nächsten Runde im Spiel gegen Justine Henin wie eine Feindin.

Diesmal war sie es, die die Nerven und das Spiel verlor. Pfiffe hallten ihr in den Ohren, als sie den Court Central verließ, und in der Kabine flossen die Tränen. Henin gewann zwei Tage später den ersten ihrer drei Titel in Paris, und deshalb, sagt sie, sei das Turnier des Jahres 2003 eine der schönsten Erinnerungen ihrer Karriere.

Williams hat die Erinnerung gelöscht. „Ich habe keine große Lust, noch daran zu denken“, sagt sie. „Es kommt mir vor, als sei das Jahrzehnte her. Wir haben uns beide seitdem sehr geändert“. Von sich selbst behauptet sie, der Tod ihrer Halbschwester Yetunde und diverse Verletzungen hätten ihr eine neue Sicht auf das Leben gegeben. Zumindest in dieser Hinsicht ist sie sich einig mit Justine Henin. Die Belgierin behauptet, sie bemühe sich inzwischen, offener mit vielen Dingen umzugehen. Nach der Trennung von ihrem Mann hat sie nach vielen Jahren des Schweigens wieder Kontakt zu ihrem Vater und ihren Geschwistern aufgenommen, und sie versichert, das mache sie sehr glücklich. DORIS HENKEL