DIE MILCHKÜHE IN MEINER NACHBARSCHAFT SIND NICHT SO GLÜCKLICH, WIE ICH DACHTE
: Becher in Kuheuterform

Foto: privat

REBECCA CLARE SANGER

Mein sahneverschmiert glückliches, schadenfreudig, schadenglücklich „Wer kriegt sonst schon Jerseyrohmilch zu trinken“-Milchgesicht wird mir vom „Tag der offenen Tür“ der Landwirtschaft vom Gesicht gewischt. Quer durch Dänemark haben Bauernhöfe ihre Pforten geöffnet, bei uns ist es die Milchfarm von Benjamin, der sich mit Eis aus eigener Produktion ganz gut etabliert hat.

Die Sonne scheint. Repräsentanten des Milchkonzerns Arla haben vor dem Kuhstall Becher in Kuheuterform zum Verschenken aufgestellt. Sie bieten eine Verkostung von Joghurtdrinks und individuell verpackte Käsehäppchen an.

Die Kühe sind geduldig. Ihre Euter sind sehr viel größer als die Euterbecher draußen vor dem Stall, schwer hängen sie unter ausgemergelten Bäuchen. Zwischen ihren Melkzeiten machen sie sich das Kratzrad und das Kraftfutter zum Programm oder sie schlafen auf ihren Zementkojen. Bevor er nach Dänemark kam, hatte der Tierpfleger noch gar nicht gewusst, dass es Kühe mit halb-amputierten Eutern gäbe, einem Euterbruch folgt die Amputation, der Zementboden tut in manchen Fällen das seine.

Die Kälber stehen auch zur Besichtigung aus. Verwirrt stehen die tagesalten Kälber einzeln in halb aufgeschnittenen Plastiktonnen, ihre Ration Milch darf nicht versehentlich vom verwirrten Nachbarkalb getrunken werden. Der artgerechten Haltung zuliebe stehen die Plastiktonnen nebeneinander und durch ein wenig Maschendraht hindurch können die Kälber einander lecken. Das ist behördliche Auflage.

Es gibt kein einziges Kalb, welches Lust hat, ein anderes Kalb zu lecken. Sie stehen schließlich nicht in einer Schar auf der Weide neben den Kühen und suchen die Gesellschaft von Gleichaltrigen. Sie suchen etwas anderes. Sie saugen mit einer derartigen Inbrunst an meinen Fingern, dass ich erwäge, ihnen meine eigene Brust zu reichen. Kein Kalb bleibt länger als 24 Stunden bei der Mutter. „Ist auch gesünder so“, sagt Benjamin, sein Gesicht spiegelt sich in einem Arlamilcheuterbecher. „Wenn sie bei ihren Müttern blieben, bekämen sie nicht genug Milch.“

Nun sehe auch ich verwirrt aus.

Traurigkeit und Verlust gibt es überall auf der Welt, nicht nur auf dem Bauernhof. Im hinteren Teil des Stalles hängt der Mutterkuh nach der Geburt ein Teil vom Kuchen halb vertrocknet zum Popo hinaus. Ihrem Kalb hängt 50 Meter weiter in einer halb aufgeschnittenen Plastiktonne die Nabelschnur zum Bauch herunter. Sie werden einander nie wieder sehen, obgleich sie auf dem gleichen Hof gehalten werden.

Ein stolzer Familienvater macht mit seinem Mobiltelefon Bilder von einem Kalb, welches versucht seinem Sohn Milch aus den Fingern zu saugen. „Zum Brüllen, zum Brüllen komisch ist das!“ sagt er dabei.

Mir kommen die Tränen und ich esse zum Trost ein großes, sahneschweres Eis. Mein Jerseymilchbauer, mein Rohmilchtrumpf, steht neben den Arlarepräsentanten und den Euterbechern herum. Die Käsehäppchen schmecken immer noch nicht, der Joghurtdrink soll versauern und ihnen rosabraun aus den Petflaschen ins Gesicht schießen.

„Hallo Finn“, sage ich. „Was machst du eigentlich mit deinen Kälbern?“ Jerseykälber schmecken nicht. Deshalb ist die Jerseyzucht auch so beschwerlich. Wo soll man mit dem Nebenprodukt der Milchproduktion bloß hin? Finn hat da eine gute Lösung gefunden.

„Du kennst doch die Insel Lindholm?“

„Die, mit den Tierversuchen?“ frage ich, mein Mann zeigt mir das kleine Inselchen manchmal wenn wir über die Brücke drüber fahren. Ich halte dann immer nach U-Booten Ausschau und fühle mich ganz wie bei James Bond. Der Öffentlichkeit ist nämlich der Zutritt der Insel verwehrt und Mitarbeiter dort dürfen zuhause keine Haustiere halten.

„Ach so“, sage ich zu Finn.

Rebecca Clare Sanger pendelt mit Mann und Kindern zwischen Hamburg und der dänischen Insel Møn; was sie dabei erlebt, steht alle zwei Wochen an dieser Stelle. Einen Sammelband mit ihren „Hamburger Szenen“ aus der taz.hamburg hat der Verlag Michason & May unter dem Titel „Hamburg Walking“ veröffentlicht.