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TANZMUSIK SÜDAFRIKA Heute Abend im Berghain: Shangaan Electro kommen mit digitalen Marimbas, Computerspielsounds und einem irrwitzigen Tempo

Die Männer vollführen Sprünge, als hätten sie Beine aus Gummi, und die Frauen in ihren bunt flatternden Röcken wackeln so energisch mit den Hüften, dass man ernsthaft um ihre Wirbelsäulen fürchten muss. In den Videos zu Shangaan Electro gibt es reichlich ungewöhnliche Tanzbewegungen zu sehen, Musiker mit grotesken Masken, aber ebenso Herren im gebügelten Hemd mit Krawatte, die sich gerade für die nächste Familienfeier zurechtgemacht zu haben scheinen. Man darf gespannt sein, wie sich die Musiker aus Südafrika heute Abend im Berghain präsentieren werden.

Einer der korrekt gekleideten Herren heißt bürgerlich Richard Mthethwa und macht unter dem Namen Nozinja selbst Musik. Er ist als Produzent, Labelbetreiber und CD-Hersteller in einer Person die treibende Kraft hinter diesem neuen Genre aus Soweto, das als digitale Neubelebung traditioneller Shangaan-Musik betrachtet werden kann, einem Tanzstil der Shangaan oder Tsongas im Süden Afrikas.

Das Ergebnis ist in der Tat recht verwunderlich. Elektrifizierte Shangaan-Songs schwirren mit 180 Schlägen in der Minute so schnell am Ohr vorbei, dass ihr komplexes Geflecht aus elektronischen Marimba-Klängen, Computerspielsounds, verfremdeten Stimmensamples und herkömmlichem Call-and-Response-Gesang in relative Bewegungslosigkeit umschlägt. Wie Mthethwa in Interviews zu verstehen gab, würden die Leute bei langsamerem Tempo einfach nicht mehr tanzen. Und für ihn ist das Ende der Fahnenstange lange nicht erreicht: Die 183 Beats seiner letzten Platte gedenkt er noch zu übertreffen.

Doch damit nicht genug: In dieser Musik herrscht nicht nur rasender Stillstand, sie verzichtet auch praktisch auf jegliche Basstöne. Für das Berghain, in dem man auf die monumentalen Tiefsttöner der Hausanlage einigermaßen stolz ist und gern Gebrauch von ihnen macht, müsste das eigentlich ein Affront sein. Dass man die höhenlastigen Gäste aus Südafrika gleichwohl willkommen heißen, könnte ein Indiz für die Verschiebungen sein, die sich aktuell in der Tanzmusik abzeichnen.

Vor zwei Wochen erst hatte die Veranstaltung „Radical Riddims“ die globalen Entwicklungen in der Clubmusik präsentiert, deren größte Innovationen heutzutage hauptsächlich von außerhalb der traditionellen Pophegemonial-Zentren Europa und Nordamerika kommen. Während in der „Alten Welt“ das Alte zunehmend Pop- und Clubgeschehen bestimmt, Rekonstruktionen des Vergangenen von Soul bis New Wave wichtiger geworden sind als das Bedürfnis, den Geist der Zeit in neuen Tönen zu erfassen, hat die Globalisierung zur Vernetzung der früher marginalisierten Musikszenen beigetragen, deren Mischung aus Tradition und modernen Produktionsmethoden zunehmend auch in hiesigen Clubs gespielt – und als das einzig wirklich neue Ding gefeiert – wird.

So veröffentlichte das Londoner Label Honest Jon’s, für entlegene Musik früherer Dekaden genauso bekannt wie für neueste Clubmusik, vor einem Jahr die Compilation „Shangaan Electro - New Wave Dance Music From South Africa“, die international mit Begeisterung aufgenommen wurde. Hier hat womöglich auch die Lust am Fremden einen nicht unerheblichen Anteil an der Euphorie, die diesen wahrhaft unerhörten Klängen entgegenschlägt. Ob es sich dabei um eine kurze exotistische Modewelle handelt oder sich eine neue Kontinuität im Club bei erhöhter Taktfrequenz einstellen wird, bleibt abzuwarten. Wer weiß, wie das Berliner Publikum reagieren wird: Nimmt es das Angebot zum Tanzen an – und wenn ja, wie? Auf Youtube kann man schon mal unter „Shangaan Electro“ suchen, um zu üben.

TIM CASPAR BOEHME

■ Shangaan Electro: Heute, 20 Uhr, Berghain