Kleine Fluchten vor dem Drill

EINLADUNG ZUR LANDPARTIE In einer aufgelassenen ehemaligen NVA-Kaserne bei Neuhardenberg mischen sich auf Vermittlung der „Initiative Endmoräne“ Werke verschiedener Künstlerinnen mit den Spuren des Vergangenen

Auch unwirtliche Orte entwickeln erzählerischen Sog, man tritt in ihre Geschichten ein, lässt sich treiben

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Wenn es stimmt, dass heute mehr Tiere pro Quadratmeter in der Großstadt leben als außerhalb, dann könnte doch auch wahr sein, dass sich die Veränderlichkeit der Arten in Fauna und Flora beschleunigt. Und dann erscheint auch wahrscheinlich, dass dies besonders dort stattfindet, wo die Umweltbedingungen extrem manipuliert wurden, wie zum Beispiel im Verlauf militärischer Übungen. Deshalb entwickelte der Gemeine Taubwüstling aus der Familie der Verweigerer in den 60er Jahren eine besondere Widerstandsfähigkeit gegen extreme Erschütterungen des Bodens, die sich bei vorbeifahrenden Panzern und Sprengübungen einstellten. So geschehen auf dem Gelände einer NVA-Kaserne der ehemaligen DDR. Das behauptet zumindest eine Tafel auf einem botanischen Lehrpfad. Ein Bild der Pflanze existiert auch noch, gleichsam Abfallprodukt der Experimente mit Silvesterraketen. Durch deren Lichtexplosion brannte sich das Bild der Pflanze wie ein Schatten in die dahinterliegende Kasernenwand ein.

Die Pflanzenbilder sind zu sehen auf dem ehemals militärisch genutzten Grund in Neuhardenberg, nahe der polnischen Grenze, deren Gebäude seit gut zehn Jahren verfallen. Womöglich haben sich die sonderbaren Arten nicht wirklich in die Wand gebrannt, womöglich sind sie aufgemalt von jener Autorin, die auch die Tafeln des Lehrpfades schrieb, der Malerin Ka Bomhardt. Ihre Beschreibung der Pflanzen, deren besonderer Schutz- und Wehrvorrichtungen, Gift- und Drogenproduktion spiegelt eine imaginierte Kasernenwelt, voller Männer, Einsamkeit und Fluchten vor dem Drill.

Bomhardts botanischer Lehrpfad ist eins von über 20 Kunstprojekten, mit denen Künstlerinnen aus Berlin und Brandenburg das verlassene Militärgelände bespielen, noch zwei Wochenenden lang. Sie gehören zur Initiative Endmoräne, die seit 1991 Künstlerinnen zu einer Sommerwerkstatt in aufgegebene Bahnhöfe, leer stehende Schlösser oder Villen mit ungewisser Zukunft einlädt – alles im Umland von Berlin, fast immer funktionslos geworden und verfallen als Folge des Übergangs von der DDR in die BRD. Dass die Künstlerinnen, die zwei, drei Generationen angehören, keine Ostalgikerinnen sind, offenbart die Art ihres Zugriffs auf die Reste der Geschichte sehr bald; aber auch, dass sie das Überschreiben von Vergangenheiten, das leise Mischen von dokumentarischen und fiktiven Gesten lieben.

Kleine Birken wachsen überall aus dem Beton der Kaserne, in Zimmern, auf den Treppen und Dächern. Das üppig wuchernde Grün mildert die harten und nüchternen Konturen der Gebäude. Dagegen arbeiten auch dicke Tapetenschichten oder mit Blumenmustern bemalten Wände – erstaunlicherweise erscheint die Kaserne wie ein gigantisches, verwittertes Musterbuch von 30, 40 Jahre alten Wandgestaltungen, ornamental, zart in den Farben, abblätternd.

Die Künstlerinnen haben den Schutt zusammengekehrt und oft nur minimal eingegriffen. Christiane Wartenberg hat über eine lange Flucht leerer Räume kleine Fotos von Kriegsschauplätzen verteilt, grau verwaschen, wie vom Fernseher abfotografiert, ein Echo dessen, was hier immer mögliche Realität war. In einer riesigen Halle ist noch ein Graffiti zu sehen, wuchernd und lebenslustig. „Heldensaal“ nennen Kerstin Baudis und Erika Stürmer-Alex, eine Grande Dame der alternativen Kunsträume schon in der DDR, diesen Raum und hängen ihn voll weißer Hemden, leere Hüllen, die ihre Bewohner verloren haben.

Kleine Eingriffe

Man verliert sich bald auf dem Gelände, fühlt sich beim Stöbern plötzlich, als wäre man allein über den Zaun gestiegen, ein Picknickkorb wäre jetzt willkommen, der Imbisswagen am Eingang ist weit. Zwei Stunden vergehen schnell beim Entdecken der kleinen Eingriffe: Da sind Fahrradreifen zwischen die jungen Baumstämme geflochten (von Renate Hampke), hier läuft eine Kompagnie aus Bambusspeeren lang (von Kerstin Baudis), und ganz hinten, am Ende eines Tunnels, der unter die Erde führt, hält auf einem Bildschirm eine Pieta ihren Sohn in den Armen und singt, bis sie ihn am Ende des Loops mit einer komischen kleinen Geste ins Grab plumpsen lässt. Erst zieht einen das Pathos dieser Videoinstallation von Monika Funke-Stern in die Tiefe, dann ist man doch froh über die kleine Entgleisung, die das Künstliche der Inszenierung verstärkt.

In den neunziger Jahren lockten noch viele Künstlerlandpartien ins Umland, das gehörte zu den neu entdeckten Freiräumen nach der Wende. Heute sind solche oft aufwendigen Projekte selten geworden, schade eigentlich. Denn selbst die unwirtlichsten Orte entwickeln so einen erzählerischen Sog, man tritt in ihre Geschichten ein, wechselt den Modus der Wahrnehmung, lässt sich treiben.

■ „Abgeräumt. Imbiss geplant. Führungen ins Universum“ auf dem Militärgelände von Neuhardenberg, 2. + 3., 9. + 10. Juli, 13 bis 18 Uhr, Anfahrtswege unter www.endmoraene.de