„Wir müssen fragen, was das Leben wirklich ausmacht“

Der Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus fordert Verkehrsregeln für die Autobahn der Globalisierung. Damit alle diese Straße nutzen können – auch Rikschafahrer

Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus beteiligt sich Donnerstagabend neben dem südafrikanischen Bischof Desmond Tutu, der Attac-Mitgründerin Susan George und vielen anderen am „Ruf an den G8-Gipfel in Heiligendamm“ (20 Uhr, RheinEnergieBühne, Roncalliplatz). Am Freitag diskutiert Yunus über sein Spezialthema „Millenium Development Goals, Kleinkredite und G8-Gipfel“ (20 Uhr, Halle 4.2, Messegelände). Am Samstag schließlich sitzt er u.a. mit Bundeskanzlerin Angela Merkel auf einem Podium zum Thema „Weltwirtschaft gestalten“ (11 Uhr, Halle 5.2, Messegelände)

Weitere Informationen über Muhammad Yunus, den Kampf gegen Armut in Bangladesch und Auswirkungen der Globalisierung auf das südasiatische Land gibt es bei der Bangladesch-Organisation NETZ. Sie findet sich im Internet unter www.bangladesch.org.

Die Idee des Wirtschaftswissenschaftlers Muhammad Yunus klingt banal. Seine Grameen-Bank vergibt in Bangladesh Kleinstkredite an Arme, die damit ein Geschäft für ihren Lebensunterhalt aufbauen. Dafür erhielt Yunus 2006 den Friedensnobelpreis. Auf dem Kirchentag diskutiert der 66-Jährige mit der Kanzlerin über die Weltwirtschaft

Interview Anett Keller

taz: Herr Yunus, was bedeutet Ihnen Religion persönlich?

Muhammad Yunus: Formell betrachtet, bin ich kein streng gläubiger Mensch. Ich versuche, mit meiner Arbeit Menschen etwas Gutes zu tun. Das ist meine Art, Religion zu leben.

Nun besuchen Sie den Kirchentag in Köln. Dort sind die Folgen der Globalisierung und die Armutsbekämpfung zentrale Themen. Welche Rolle sollten religiöse Institutionen bei der Globalisierung spielen?

Sie sollten die Interessen der Armen schützen. Ich geben Ihnen ein Beispiel: Wenn eine große europäische Lebensmittelkette nach Bangladesch kommt, treibt sie viele kleine lokale Gemüsehändler in den Ruin, weil die nicht so effizient sind und keinen vergleichbar großen Absatzmarkt haben. Die Kirche hier sollte also auch bei diesen Themen mit ihrem Einfluss präsent sein und deutsche Unternehmen auffordern, dass sie bei einem Engagement in einem Entwicklungsland die lokalen Händlern nicht vergisst, sondern sie als Lieferanten einbindet. Gerade religiöse Institutionen sollten viel mehr darauf dringen, dass in der Wirtschaftswelt wieder mehr über die Frage des „Einander Helfens“ nachgedacht wird. Sonst bleiben die Armen in den Entwicklungsländern auf der Strecke.

Finden Ihre Ideen Dank des Friedensnobelpreises mehr Gehör?

Der Kreis derer, den ich von unserer Art der Armutsbekämpfung berichten kann, hat sich enorm vergrößert. Es haben sich viele Türen geöffnet zu Entscheidern, mit denen ich darüber sprechen kann, wie wir Armut in der Welt verringern können. Und welche institutionellen und politischen Veränderungen dafür nötig sind.

Viele Prominenten engagieren sich gegen Armut. Bono, der Sänger der Rockgruppe U2, startete eine Initiative für Afrika, Microsoft-Chef Bill Gates spendet großzügig für den Kampf gegen Aids. Werden Sie mit der Popularität – und dem Preisgeld von einer Million Euro – eine besondere Initiative starten?

Ich mache weiter mit dem, was ich die letzten Jahrzehnte getan habe. Ich versuche, Banken zu überzeugen, dass wir ein inklusives System der Kreditvergabe brauchen. Warum sollen nur wenige Auserwählte kreditwürdig sein? Wir haben bewiesen: Man kann den Armen Geld leihen. Frauen, Bettlern, Menschen ohne jede materielle Sicherheit – ohne als Bank pleite zu gehen.

Kritiker werfen Ihnen Geschäfte mit der Armut vor. Zinsen von 20 Prozent für einen Mikrokredit seien viel zu hoch.

Das wird immer sehr einseitig dargestellt. Erstens müssen Sie das im Kontext der Realität in Bangladesch sehen. Die Zinsen dort sind nun mal höher als bei Ihnen in Deutschland. Wir zahlen ja denen, die bei uns Geld anlegen, schon zwölf Prozent Zinsen. Außerdem gehört den Kreditnehmern die Bank. Macht sie Gewinne, fließen die nicht in die Taschen eines Einzelnen. Sondern kommen den 7,2 Millionen Besitzern der Grameen-Bank zugute.

Sie kritisieren, dass die Globalisierung derzeit unmenschlich sei, weil sie die Armut wachsen lässt.

Globalisierung ist wie ein Verkehrsstrom, der auf vielen Autobahnen um die Welt unterwegs ist. Nur die reichen Länder und die größten Firmen haben etwas von diesem Wettrennen, weil es überhaupt keine Verkehrsregeln gibt. Auf dieser Straße gibt es aber nicht nur Rennwagen, sondern alle Arten von fahrbaren Untersätzen – bis zur Fahrradrikscha, wie sie bei uns in Bangladesch so beliebt ist. Damit alle diese Straße nutzen können, braucht es Regeln. Und sie brauchen eine Verkehrspolizei. So lange wir keine globale Regulierungsbehörde haben, die wirksame Sanktionen bei Regelverstößen verhängen kann, besteht Kolonialismus fort. Die Starken schlucken die Schwachen.

Wie sollten denn solche Verkehrsregeln aussehen?

Man muss generell die Frage stellen, was unsere Auffassung von einem guten Geschäft ist. Geht es nur um Profitmaximierung? Oder stellen wir uns auch die Frage danach, was ein menschliches Leben ausmacht. Sollen wir Menschen nur als Geldautomaten betrachten, wie wir es im Moment tun? Alles Denken an den Börsen dieser Welt, alle Investitionsentscheidungen sind von diesem eindimensionalen Bild geleitet. Doch wollen wir das Leben wirklich so einseitig sehen? Wir müssen doch in Menschen auch Wesen sehen, die Anteilnahme zeigen, die einander helfen wollen, ihr Leben zu verbessern. Wenn wir das in ihnen sehen wollen, zeigt sich ein anderes, sozialeres Konzept vom Geschäfte machen.

Um den Preis des Gewinns?

Erstens heißt nicht Gewinn orientiert zu sein, ja nicht, dass man Verluste macht. Gewinn kann man doch nicht nur finanziell definieren. Wir brauchen viel mehr Unternehmen, die sich an Stelle der reinen monetären Gewinnmaximierung die Frage stellen, wie sie der Welt helfen können. Wir werden die globalen Probleme nicht lösen, so lange die Zahl der Geschäftsleute nicht steigt, die Umweltschutz, Armutsbekämpfung, Gleichberechtigung der Frauen oder Gesundheitsversorgung zum Unternehmenszweck erklären. So lange wir Geschäfte machen nur finanziell definieren, unterdrücken wir die menschliche Seite des Lebens. Wenn wir aus diesem Denkschema nicht ausbrechen, drehen wir uns weiter im Kreis und kommen einer Lösung unserer Probleme kein Stück näher.

Nun widmet sich der G8-Gipfel in Heiligendamm den globalen Problemen. Was sollte Deutschland als Gastgeber ganz oben auf die Agenda stellen?

Bessere Marktzugänge für die armen Länder. Die Europäer haben Bangladesch gegenüber die Zollschranken bereits abgebaut. Doch die USA tun das nicht. Im letzten Jahr exportierte Bangladesch Waren im Wert von 3,3 Milliarden Dollar in die USA. Dafür mussten wir eine halbe Milliarde Dollar Zoll bezahlen. Eines der ärmsten Länder der Welt wird von den USA mit den vergleichsweise höchsten Einfuhrzöllen belegt. Großbritannien beispielsweise exportierte für 54 Milliarden. Und hat auch nur eine halbe Milliarde Zoll bezahlt. Diese Ungerechtigkeit muss aufhören.

Auch der Kampf gegen die globale Erwärmung ist Thema beim G8-Gipfel und beim Kirchentag …

… eines der wichtigsten überhaupt. Ich komme aus einem Land, das mit am stärksten unter den Folgen leidet. Durch den ansteigenden Meeresspiegel sind in Bangladesch Millionen von Menschen Opfer des Klimawandels. Sie brauchen schnelle Lösungen, um zu überleben. Trotzdem sind die Staaten mit dem höchsten Energieverbrauch wie die USA immer noch nicht bereit, das Kioto-Protokoll zu unterschreiben und ernsthaft etwas gegen den Ausstoß von Treibhausgasen zu unternehmen. Dabei sollte allein die immens hohe Zahl der zu erwartenden Klimaflüchtlinge die Politik zwingen, sich des Themas schnell und verbindlich anzunehmen. Im Kampf gegen den Klimawandel ist aber auch jeder Einzelne gefragt.

Sie appellieren an verantwortungsbewussten Konsum?

Die Bewohner der reichen Länder dürfen vor der Lebensstil-Frage nicht länger die Augen verschließen. Es heißt nicht zwingend eine schlechtere Lebensqualität, wenn man versucht, ein bisschen verantwortungsvoller im Verbrauch von Ressourcen zu sein. Wir müssen uns immer die Frage stellen, ob wir mit dem, was wir tun, anderen schaden. Unverantwortlicher Energieverbrauch schadet Millionen von Menschen auf der Welt. Es darf einfach nicht sein, dass über globale Ressourcen nur die verfügen dürfen, die sie bezahlen können.

Längst haben nicht mehr nur die Industrieländer einen hohen Energieverbrauch. China wird bald der größte CO2-Emmittent sein. China oder auch Indien verweisen gern darauf, dass die Industrieländer den längeren Vorlauf in puncto Umweltverschmutzung haben und nun auch als Erste agieren müssen. Eine akzeptable Argumentation?

Es leuchtet ein, wenn Länder wie China oder Indien sagen: Wir lassen uns doch nichts diktieren von jenen, die seit einer Ewigkeit die schlimmsten Umweltverschmutzer sind und selbst nichts unternehmen. Das heißt, dass die Industrieländer natürlich mit gutem Beispiel vorangehen müssen. Das heißt jedoch nicht, dass die aufstrebenden Schwellenländer sich nicht beschränken müssen. Da stehen schließlich noch eine Menge armer Länder Schlange, die auch gerne wachsen möchten.

Große Schwellenländer gestalten die Globalisierung immer mehr mit. Wie kann sich das positiv auswirken?

Wenn sie globale Probleme wie den Klimawandel ernst nehmen, kann es eine Chance sein. Es sind schließlich Länder, die davon auch stark betroffen sein werden. Und es sind Länder, deren Einfluss auf die entwickelte Welt stark wächst. Wenn sie also ihre wachsende ökonomische Macht nutzen, um sich gemeinsam mit den Industriestaaten auf verbindliche Regeln zu verständigen, kann das allen helfen. Es wäre jedoch sehr traurig, wenn sie nur an ihre eigenen Interessen denken.

Gerade China wird das im Moment vor dem Hintergrund seiner Rohstoffpolitik in Afrika vorgeworfen.

Die Geschichte hat uns furchtbare Beispiele für einen räuberischen Kapitalismus in Afrika gelehrt. Es wäre verheerend, wenn China die gleichen Fehler noch einmal macht. Wir leben im 21. Jahrhundert und sollten gelernt haben, dass erfolgreiche Unternehmungen beiden Seiten nützen sollten.

Afrika und die Bekämpfung der Armut dort sind ebenfalls ein zentraler Punkt bei G8 und Kirchentag. Viele Staaten setzen auf Entschuldung. Sie sind dagegen. Warum?

Ein Entschuldungsprogramm ist kein Garant für die Verminderung von Armut. Besser wäre es, den Rückzahlungsmodus zu ändern. Man sollte mehr Fonds gründen, in die die Raten in der lokalen Währung eingezahlt werden. Dieses Geld sollte für Armutsbekämpfung aufgewendet werden. So kann man Regierungen dazu bringen, in Bildung oder Gesundheit zu investieren, die das sonst nicht tun würden. Streicht man einfach nur Schulden, bringt das den Armen doch gar nichts. Es sorgt nur dafür, dass das gesparte Geld durch Korruption versickert oder in Rüstungsgüter und Prestigeprojekte investiert wird.