Der Sound der Erotik

Nigel Lowery inszeniert Mozarts „Clemenza di Tito“ an der Staatsoper. Hier kehrt die Oper zu sich selbst zurück

Nigel Lowery hat seine Laufbahn als Bühnenbildner begonnen. Vielleicht hat ihn das davor bewahrt, in Mozarts vorletzter, allgemein als eher langweilig verschriener Oper über den gütigen Kaiser Titus das allgemeingültige Menschheitsdrama zu suchen, das es dort nicht gibt. In „Clemenza di Tito“ stiftet eine abgewiesene Liebhaberin des Kaisers ihren ebenfalls unglücklichen Liebhaber zur Rache an. Um sie, die so schrecklich gerne selber Kaiserin wäre, zu erobern, setzt dieser das Kapitol in Brand und versucht den Kaiser zu erstechen, der sein bester Freund ist. Aber er erwischt nur einen Diener, und so kann der verehrte Herrscher allen verzeihen. Die Eifersüchtige darf seine Frau werden, und auch das zweite Paar findet sein Glück.

Nein, so war die Wirklichkeit des menschlichen Seelenlebens nie. Mozart wusste das, und Lowery weiß es auch. Mit Ehrfurcht hört er deshalb zu, was der Großmeister der musikalischen Tiefenpsychologie macht, wenn ihm der Stoff fehlt: Gereift in der Komposition von Cosí fan tutte und Don Giovanni lässt Mozart noch einmal die erotischen Katastrophen aufklingen, die uns dort bis heute erschüttern, nun aber ganz entspannt, wie ein Nachbild wüster Träume, das jetzt in vollendeter Meisterschaft endlich zur Ruhe kommt.

Genau so gelassen nimmt auch Lowery diese Oper hin: als Rückblick auf vergangene Leidenschaften, der ohne großes Theater auskommt. Fast ein wenig nachlässig, als wolle er die Musik nicht stören, lässt er mit groben, kunstlosen Pinselstrichen bemalte Leinwände vom Bühnenhimmel herabhängen. Sie deuten eine in warmen Erdtönen nachgemalte Szene an, die zugleich Innenraum eines Gebäudes als auch öffentlicher Platz ist. Im kalten Licht von Neonröhren agieren Figuren in Kostümen vom Mittelalter bis zur Gegenwart.

Der Mut dieser Selbstbeschränkung ist bewundernswert. Auf einer Provinzbühne wäre Lowerys Regie vermutlich gescheitert, an der Staatsoper wird sie zum Ereignis. Vier große Sopranstimmen verlangt Mozart, der für das Auftragswerk zur Krönung des böhmischen Königs noch einmal auf die barocke Tradition der Hosenrollen zurückgriff, dazu einen Tenor und einen Bass. Es fällt schwer, die Lorbeeren zu verteilen, denn unter der Leitung des jungen Philippe Jordan kehrt gleich die ganze Gattung der Oper zu ihrem innersten Kern zurück. Alles ist Gesang, die individuelle, unverwechselbare Körperlichkeit der menschlichen Stimme ist das eigentliche und wohl tatsächlich zeitlose Drama, das alles andere vergessen lässt. Melanie Diener und Elina Garanca singen die eifersüchtige Vitellia und ihren Rächer Sextus mit vollkommen ebenbürtiger Vollendung, mit kraftvollen, dennoch in jeder Lage beherrschten, eher der innermusikalischen Logik als der vordergründigen Rollenpsychologie folgenden Stimmen. Sie haben die Hauptrollen, und nur deswegen stehen Roberto Saccà als Titus, Katharina Kammerloher und Sylvia Schwartz als Nebenpaar Annio und Servilia etwas in ihrem Schatten. Zusammen mit der wunderbar klar und einfühlsam begleitenden Staatskapelle gelingen auch ihnen wahre Meisterstücke des Bühnengesangs. Schöner lässt sich Mozart wohl kaum aufführen.

NIKLAUS HABLÜTZEL

Nächste Aufführungen: 7., 10., 13., 16., 19., 22. Juni