Im Dickicht der Beschreibungen

POSTMODERNE Pferderennen, Folter und der Geruch von Essen: John Hawkes’ experimenteller Roman „Die Leimrute“ ist wieder auf Deutsch zu haben

John Hawkes’ „Die Leimrute“ ist ein Thriller, doch endet er an einem für das Genre unüblichen Punkt der Handlung: Die Polizei ist auf der letzten Seite des Buchs noch weit davon entfernt, die verschiedenen Todesfälle, die bis dahin zu verzeichnen waren, aufgeklärt zu haben. Sie hat gerade erst ihre Arbeit aufgenommen.

Überhaupt kümmert sich dieser Roman sehr wenig um Konventionen des Erzählens. An der Oberfläche mag es konkret zugehen – ein Pferd wird gestohlen, Menschen werden entführt, gefoltert und gemordet –, je weiter man den Ereignissen folgt, desto weniger hat man allerdings den Eindruck, sie seien das, worum es dem Verfasser eigentlich geht.

Der Schriftsteller John Hawkes zählt zu den Wegbereitern der US-amerikanischen Postmoderne. Bewundert wurde er von Kollegen wie Saul Bellow, Anthony Burgess und Thomas Pynchon. Hawkes lehrte an der Brown University in Providence Creative Writing. Mit „Die Leimrute“ gelang Hawkes 1961 der Durchbruch als Autor, drei Jahre später erschien eine Übersetzung im Wiesbadener Limes Verlag. Jetzt hat, zum 50. Jubiläum der Veröffentlichung, der ebenfalls in Wiesbaden ansässige Verlag Luxbooks die deutsche Fassung von Grete Weil neu aufgelegt. Man kann hoffen, dass dies ein Auftakt zur Wiederentdeckung von Hawkes ist.

Zu Beginn tritt der Ich-Erzähler William Hencher in Erscheinung, ein Engländer, der seine Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg Revue passieren lässt. Wie er mit seiner Mutter in einer Mietwohnung lebte, wie er von ihr kochen lernte, wie eines Nachts im Haus ein Feuer ausbrach. Dabei fällt die Detailversessenheit auf, mit der Hencher seine Eindrücke beschreibt.

Nachdem Henchers Mutter in der Wohnung gestorben ist, wird er, Jahre später, wieder Untermieter in denselben Räumen. Er zieht beim Ehepaar Banks ein, dem er freundschaftlich verbunden zu sein scheint. Allmählich tauchen Irritationen auf, der Ehemann, Michael Banks, wird von Hencher angestiftet, sich am Diebstahl eines Rennpferds zu beteiligen. Dieses Pferd soll dann unter anderem Namen antreten, mit Banks als Besitzer.

Die Früchte dieses Coups kann Hencher selbst nicht ernten. Er wird gegen Ende des ersten Kapitels von dem gestohlenen Pferd zu Tode getreten. Damit wechselt die Erzählperspektive, und die Frage nach dem Protagonisten bleibt fortan ungelöst. Mal wendet sich das Buch stärker Michael Banks zu, mal steht seine Frau Margaret im Mittelpunkt. Beide geraten sie immer mehr in die Fänge der Verbrecher, wobei Michael eine ambivalente Haltung zwischen Komplize und Beobachter einnimmt. Margaret hingegen wird, ohne Michaels Wissen, zum Opfer brutaler Folter.

Hawkes macht sich einen Spaß daraus, als Kommentator in die Gedanken seiner Figuren hineinzufunken. Als Margaret mit einem Gummiknüppel verprügelt wird, stellt sie dabei Überlegungen an, die zumindest verwundern: „Sie hatte einmal etwas über Prügeln gelesen. Und doch war sie überrascht, als es kam. Aber als sie jetzt nachdachte, lauschte, zurück durch das Dunkel blickte, begriff sie – trotz des Aufsatzes, den sie gelesen hatte –, dass es etwas war, das man nicht einmal in Filmen zeigen kann.“ Wie zur Erwiderung spricht ihr Peiniger wenig später den Satz „Gaslichtszenen sind meine Spezialität“ und setzt so die literaturtheoretische Betrachtung fort.

Ansonsten herrscht im Roman ein Dickicht der Wahrnehmungen vor, in dem sich die Zusammenhänge oft nur ansatzweise erschließen. So wird man bei der Lektüre selbst zum Detektiv der Handlung, deren offenes Ende insofern konsequent ist. Schön, dass dieses Experiment, das die Lust am Text auf ganz ungewohnte Weise weckt, wieder auf Deutsch zu haben ist.

TIM CASPAR BOEHME

John Hawkes: „Die Leimrute“. Aus dem Englischen von Grete Weil. Luxbooks, Wiesbaden 2014. 179 Seiten, 19,80 Euro