Die Gier nach Inhalten

Auf dem Gegengipfel diskutieren Tausende über Klimawandel, Nord-Süd-Zusammenarbeit und Hedgefonds. Erkenntnis: Alles hängt mit allem zusammen

2.000 Programmhefte hatten die Veranstalter des Rostocker Alternativgipfels drucken lassen. Gestern Morgen waren alle vergriffen. Allein bei der Auftaktveranstaltung quetschten sich 1.500 Menschen in die Nikolaikirche. Endlich scheint wieder die Sonne in Rostock – und bei den Kongressteilnehmern ist der Durst nach Inhalten zu spüren.

Viele kommen aus dem Camp am Fischereihafen. Aber etliche sind auch extra zum Alternativgipfel angereist und laufen nun zwischen Workshops und Podiumsdiskussionen durch die City.

Matthias Pfeiffer hat sich aus Passau auf den Weg nach Rostock gemacht. Dem 25-jährigen Studenten liegt das Klimathema besonders am Herzen. Gerade hat er mit 750 anderen Frauen und Männern eine Podiumsdiskussion zu Klimagerechtigkeit gehört. Mitgenommen hat er die Erkenntnis, dass man nicht über Klima reden kann, ohne das Nord-Süd-Verhältnis mitzudenken. „Die Themen hängen ja alle zusammen“, sagt er.

Pfeiffer hat sich für den Alternativgipfel entschieden und gegen die Straßenblockaden. Er sagt: „Es ist wichtig, dass es die Blockaden gibt.“ Aber ihm selbst sei schon etwas mulmig angesichts der starken Polizeipräsenz. Man könne ja nicht ausschließen, dass es auf beiden Seiten Gewaltbereite gibt.

In der Petrikirche reden sie darüber, ob Biosprit, der pflanzlich hergestellte Treibstoff, den sie hier Agrosprit nennen, das Klima retten kann. Man spricht Deutsch, Englisch und Spanisch. Eine NGO-Aktivistin aus dem Norden fragt: „Sollen wir uns für einen Stopp des Agrosprit-Imports einsetzen?“ Auf dem Podium sitzt ein Umweltschützer aus Brasilien. Was nach zwei Übersetzungen bei den Zuhörern ankommt, ist: Treibstoffe aus brasilianischem Zuckerrohr sind schon in Ordnung, aber es dürfen keine Monokulturen dabei herauskommen. Es muss auch genug Nahrung für die Brasilianer übrig bleiben.

Wenige hundert Meter weiter südlich in einem Nebenraum der Nikolaikirche sitzen 30 Leute bei einem Strategietreffen. Es geht um Finanzmärkte und die Verschuldung des Südens. Antonio Tricario spricht für eine italienische Entwicklungsorganisation, die anderen schreiben mit. Er berichtet, wie Hedgefonds mit den Schulden der Entwicklungsländer handeln: „Wenn wir diesen Zusammenhang besser beschreiben, können wir uns im Kampf für die Regulierung von Hedgefonds vielleicht mit der Entschuldungskampagne zusammentun.“ Leider sei es im linken Spektrum immer noch schwierig, im Detail über Finanzmärkte zu reden. „Dabei sind es die privaten und nicht die öffentlichen Schulden, die den Entwicklungsländern heute Schwierigkeiten machen.“

In vielen Workshops wird Fachsprache gesprochen, der Protest rund um die Nikolaikirche ist ein intellektueller. Auf den T-Shirts der rund 30 Helfer steht auf blauem Grund: „T.I.N.A. is dead“. Die meisten müssen nachfragen, was das heißt. Es geht um Margaret Thatchers alten Spruch von der fehlenden Alternative: „There Is No Alternative.“ Der Rostocker Kongress will das Gegenteil beweisen.

Auf dem größten Podium des Tages, wieder in der Nikolaikirche, spricht Sunita Narain vom indischen Zentrum für Wissenschaft und Umwelt über den Klimawandel. Sie sagt: „Hinter dem Zaun werden sie sagen, dass Technologie uns vor dem Klimawandel retten wird.“ Aber den Verlierern des Klimawandels werde das nicht helfen. Zum Schluss sagt sie: „Der Klimawandel erfordert eine globale Zusammenarbeit, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Wir müssen lernen, die Ressourcen unseres einzigen Planeten zu teilen.“

NIKOLAI FICHTNER