Im Streit um Stuttgart 21 ist die Stadt lebendig geworden

Gedankenstriche Was hat Stuttgart 21 alles ausgemacht. Ein friedlicher Protest aus der Mitte der Gesellschaft, vielfältig und sachverständig. Die Stadt ist damit richtig lebendig geworden. Sie hat eine eigene Kultur entwickelt, die so gar nicht mehr in das Bild passte, das draußen gerne bemüht wurde: reich und langweilig. Und Stuttgart ist berühmt geworden, als Symbol einer Bürgergesellschaft, die ihre Interessen in die eigenen Hände genommen hat. All das ist geschehen, weil Bürger sich zusammengetan haben, aus den unterschiedlichsten Motiven, um „denen da oben“ zu zeigen, dass sie kein Spielball von Politik und Wirtschaft sein wollen. Darüber hat sich eine politische und kulturelle Kraft gebildet, die – um einer lebendigen Demokratie willen – erhalten bleiben muss.

Doch je näher eine Entscheidung um das heftig umstrittene Bahnprojekt rückt, umso mehr gewinnt man den Eindruck, als ob Gefahr droht. Die Gefahr, dass der politische Aufbruch tausender Bürger, der bisher schon so viel bewirkt hat, nur dann eine Zukunft hat, wenn der Tiefbahnhof nicht gebaut wird. Die Gefahr, dass der kritische Austausch von Argumenten, ein hohes demokratisches Gut, als gescheitert angesehen wird, wenn der Tiefbahnhof gebaut wird – und in Radikalität umschlägt, nicht nur verbal.

Man spürt es in diesen Tagen förmlich in dieser Stadt, nach der Montags-Demo am 20. Juni, bei der erstmals Gewalt im Spiel war, von einzelnen wenigen, und nach den ersten durchgesickerten Informationen zum Stresstest, die reflexartig den bekannten Mechanismus medial ausgetragener Dualismen auslösten: Viel steht im Moment auf dem Spiel, vielleicht alles, was Stuttgart zum bundesweit bestaunten Schauplatz eines neuen demokratischen Bürgerbewusstseins werden ließ. Deshalb haben wir in dieser Ausgabe einen Schwerpunkt auf Stuttgart 21 gelegt. Journalisten haben die Aufgabe, solche heiklen Konstellationen und politisch virulenten Situationen zu „lesen“. Und sie haben die Verantwortung, damit sensibel, fair und ausgewogen umzugehen. Denn auch sie haben die Weisheit beileibe nicht gepachtet. Zuerst mal nachdenken, nach allen Seiten, und erst dann kommentieren und bewerten: diese Übung, die freilich nicht nur eine journalistische ist, möchte die Kontext:Wochenzeitung in dieser Ausgabe exemplarisch angehen. Stresstest, verletzte Polizisten, ein Essay von Heinrich Steinfest – das ist das eine. Das andere sind die „Gedankenstriche“ hier, unsere Überlegungen zu Stuttgart 21, die über die Aktualität verfestigter Stellungen hinausgehen sollen. Und die keinen Anspruch auf absolute Gültigkeit haben. Vielleicht motivieren sie Bürger jedwelcher Position, selbst solche Gedankenstriche zu setzen. Die Kontext:Wochenzeitung kann dazu ein Forum sein.