Keine Katharsis

Wie altern Holocaust-Filme? Diese Frage provoziert die heute anlaufende Reihe „Shoah im Widerstreit“ im Zeughauskino. Deutlich wird die Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart, aber auch, wie falsch Happy Ends sein können

VON STEFAN REINECKE

Der Holocaust ist Geschichte geworden. 62 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz ist die Generation der Täter und Opfern weitgehend abgetreten. Die Historisierung des Holocaust ist keine Frage mehr, sondern eine Tatsache.

Diese Distanz verändert auch unseren Blick auf die Filme. Oder nicht? Ist der Blick im Kino immer ein Augenblickstraum, der nur Gegenwart kennt? Oder wirken diese Filme, gerade weil sie aufbewahren, was an lebendiger Erinnerung verschwindet, aktueller als früher?

Die Frage nach dem Altern von Holocaust-Filmen drängt sich in einer Reihe im Zeughauskino mit dem Titel „Shoah im Widerstreit“ auf. Im Zentrum steht Claude Lanzmanns neunstündige Dokumentation „Shoah“, die 1985 ins Kino kam. „Shoah“ ist in Deutschland oft gezeigt und wenig gesehen worden, sehr zu Unrecht. 22 Jahre nach der Uraufführung stellt sich ein seltener Effekt ein. Der Blick auf den Film ist der nahezu gleiche wie damals – nahezu, weil man auf das sublime Grauen vorbereitet ist. „Shoah“ hat etwas Erratisches, Schroffes. Keine Musik, langsame Kamerafahrten, viele Zooms. Man sieht oft polnische Wälder, die nichts von dem Schrecken preisgeben, der geschah. In Sobibor sind überwachsene Schienen zu sehen, und Lanzmann fragt, wo der Lagerzaun verlief. Genau hier, sagt ein Pole und zeigt auf ein unscheinbares Stück Gras. „Hier also sind 250.000 Juden aus dem Zug gestiegen, um ermordet zu werden“, sagt Lanzmann.

„Shoah“ rekonstruiert die Details der Vernichtung, die einem noch immer und immer wieder den Atem verschlagen. Lanzmann fragt detektivisch nach Fakten, weniger nach Meinungen. In den Fokus rückt aber die Erinnerung selbst, das stockende Sprechen der Überlebenden, in dem das Unsagbare eingeschlossen ist. „Shoah“ ist ein Totengesang, eine Meditation über den Schrecken, ein Versuch, den äußersten Rand menschlicher Erfahrung in kreisenden, offenen Bewegungen nachzuvollziehen. Lanzmann vergegenwärtigt nicht Geschichte, sein Thema ist die Kluft zwischen dem Jetzt und dem Gestern.

In den 90ern wurde vor allem in Israel die Kritik laut, dass der Holocaust als eine Art sakraler Mythos funktioniere, als negative Ersatzreligion, die Identität stiftet. Lanzmann wurde in diesem Diskurs als Hohepriester des Shoah-Mythos angegriffen, als Verfechter des Bilderverbots einer neuen Religion. In der Tat hat Lanzmann apodiktisch alle Versuche, den Holocaust zu illustrieren, von der Kanzel herab verdammt: Du sollst dir kein Bildnis vom Holocaust machen. Und: Nur Erwählte dürfen das Unsagbare zum Ausdruck bringen. Der Film „Shoah“ ist da allerdings klüger als sein Autor.

Ähnlich bilderskeptisch wirkt auch Romuald Kamarkars „Das Himmler-Projekt“, die dreistündige Lesung der Posener Rede von SS-Führer Heinrich Himmler, kommentarlos vorgetragen von dem Schauspieler Manfred Zapatka. Die ästhetische Reduktion und Verfremdung rückt die Rede gleichzeitig fern und nah. Man vergisst nie, dass man einer Inszenierung zuschaut, und taucht doch so tief wie selten in die Logik der Vernichtung ein. Keine Identifikation, keine Katharsis, dafür sinnlich erfahrbare Erkenntnis. Mehr Aufklärung ist der Traummaschine Kino vielleicht nicht möglich.

Die Debatte, wie eingängig Bilder des Holocaust sein dürfen und wo Kitsch beginnt, wurde stets mit viel Furor ausgetragen. Es ging dabei um Ästhetik, um den Kampf zwischen Wort- und Bildergläubigen und um die Deutungshoheit über das richtige Verhältnis zum Holocaust.

Die letzte große Schlacht löste 1993 Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ aus, der in fast allem das Gegenteil von „Shoah“ ist. „Schindlers Liste“ ist weniger ein Holocaust- als vielmehr ein Spielberg-Film, bevölkert von Spielberg-Motiven und Figuren. Er ist, noch immer, visuell überwältigend, etwa in der Zeichnung des willkürlichen Naziterrors. Er rührt noch immer, allerdings auch weil der grässliche Soundtrack niemand tränenlos entkommen lässt. Doch schärfer als früher fällt das Hypertrophe, Schiefe, Peinliche ins Auge. Am Ende führt Oskar Schindler seine Judenkinder wie Moses ins gelobte Land. Denn es muss im Spielberg-Kosmos stets ein Happy End geben, egal ob die SS oder Dinosaurier besiegt wurden. Im letzten Bild sieht man die realen Überlebenden, die zusammen mit den Filmschauspielern an Schindlers realem Grab in Jerusalem einen Stein niederlegen. Das ist monströser Kitsch, der ein Gleichheitszeichen zwischen Fiktion und Wirklichkeit setzen will.

Doch die Debatte um „Schindlers Liste“ war immer auch eine Verwechslung. Dieser Film schien der Prüfstein zu sein, ob die populäre Kultur überhaupt vom Holocaust auf moralisch intakte Weise erzählen konnte. Der Gegenentwurf zu „Schindlers Liste“ ist nicht nur „Shoah“, sondern auch Radu Mihaileanus Spielfilm „Zug des Lebens“, eine Komödie über ein jüdisches Dorf, deren Bewohner sich als Nazis verkleiden. Mihaileanu inszeniert nicht Tränen, Katharsis, Rettung, sondern das Kunststück, Tragik und Witz in Balance zu bringen. Die letzte Szene ist eine direkte Antwort auf Spielbergs Finale. Wo „Schindlers Liste“ Authentizitätszeichen setzt, wird hier das Leben zum Traum, die Film-Erzählung zum Märchen, das Menschen brauchen, um zu ertragen, was unerträglich bleibt.

„Shoah“, Teil 1, heute Abend um 18 Uhr im Zeughauskino, Teil 2 morgen, am 10. 6. um 18 Uhr. „Zug des Lebens“, am 27. und 29. 6. „Schindlers Liste“, 1. 7. und 4. 7. „Das Himmler-Projekt“, 18. 7.