Ein Tag aus der Perspektive meiner Mitmenschen
: Wenn aufwärts und abwärts die Rollen tauschen

VON JURI STERNBURG

AUSGEHEN UND RUMSTEHEN

Es begann am Alexanderplatz. Im Zentrum. Irgendetwas lief verkehrt, es war mehr ein Gefühl denn eine Gewissheit, aber irgendwas lief hier hier extrem verkehrt. Menschen rannten sich über den Haufen, blafften sich an, drehten sich im Kreis wie Derwischtänzer und riefen hilfesuchend um Rat. Als knallharter Gegner der öffentlichen Verkehrsmittel war ich von vornherein mit der Gesamtsituation überfordert. Des Rätsels Lösung jedoch war einfach: die BVG hatte sich anscheinend einen kleinen Scherz erlaubt und am frühen Freitagabend die Rolltreppen vom S-Bahn-Steig vertauscht.

Die Rolltreppen waren natürlich noch die gleichen, hässlich wie eh und je, nur lief jene, die sonst immer runterfuhr, plötzlich rauf und andersrum. Und das um 18 Uhr 30, wenn die Feierabend-Junkies von ihren eckigen Schreibtischen und piependen Kassen aufspringen, um sich in die fahrenden Sardinenbüchsen zu zwängen. Wenn also der Erste an der Rolltreppe beim Betreten bemerkte, dass sie ihm entgegenfuhr, drängelte bereits der Zweite von hinten. Das Geschrei war groß, Panik in den Augen der Rushhour-Pendler. Wer meint, ich übertreibe, der hat den Super-GAU nicht mit eigenen Augen gesehen.

Ich beschloss, den Fahrstuhl zu nehmen. Neben mir stand ein weiterer Überlebender der Rolltreppenkatastrophe von 2011. „Seit 13 Jahren nehm ich die Rolltreppe …“, begann er seinen Monolog, aber nicht mit mir: „Sollte ich Ihnen das Gefühl gegeben haben, dass ich mich in irgendeiner Weise für Sie interessiere, tut es mir leid!“, entgegnete ich ihm und schnippte meine Zigarette gekonnt ins Gleisbett. „Sie sind mir ja einer!“, grummelte er. „Ich weiß den Euphemismus zu schätzen, einer sein wollt ich schon immer mal!“, gehörte zu meinem Repertoire für solche Fälle. Schweigen. Schließlich sah ich den großen „Außer Betrieb“-Zettel auf der Fahrstuhltür. Irgendetwas war hier mehr als merkwürdig, nichts passte mehr zum andern.

Ich war auf dem Weg zu einem Pokerturnier im Hangar49, der ehemals illegale Club hat sich inzwischen zum Geheimtipp für Balkanbeats gemausert. Angekommen, sah ich mich mit einem lustigen Typen in Jogginghose, Unterhemd und Wollmütze konfrontiert. Wenn Sönke Wortmann einen russischen Kleinkriminellen für seinen neuesten Film braucht, besorgt er sich einen Polen und lässt ihn dieses Outfit anziehen. Der Fremde erklärte mir erst einmal, dass er sämtliche Sprengstoffe aus etwas Dünger und ein paar Apothekenzutaten herstellen könne. Das kann ich auch, dachte ich, und spülte diese weltbewegende Neuigkeit mit einigen Bieren runter, während die Russen den Klitschko-Kampf auf der Großbildleinwand verfolgten.

Einer nach dem anderen flog vom Tisch und irgendwann war allen Anwesenden klar, dass hier etwas nicht stimmte: Ich hatte gewonnen! Also bedankte ich mich artig und torkelte vor die Tür, wo sich die blaue Stunde schon längst in ein gleißend helles Weiß verwandelt hatte. Ein Angler saß an der Spree. Ich stellte keine Fragen. „Wenn ich die See seh, brauch ich kein Meer mehr!“, sprach der Angler. „Wahlrecht für Aale!“, sagte ich. Dann ging ich los.

Vor meiner Haustür in der mittlerweile schwer angesagten Falckensteinstraße stand ein junger Mann mit Jutebeutel. Ich ging in meine Wohnung und schaute aus dem Fenster. Der junge Mann sprühte mein Haus voll. Und ich beschimpfte ihn. Das Gefühl wurde jetzt vollends zur Gewissheit: Ein höheres Wesen hatte mir einen Tag aus der Perspektive meiner Mitmenschen geschenkt. Das ist die einzig mögliche Erklärung. Denn so wie ich war, so bin ich nicht.