Ein verschärfter Wanderausflug

LESUNG In der Schwartzschen Villa in Steglitz wurden in Gedenken an den Ersten Weltkrieg Briefe von Wilhelm Pfuhl vorgetragen. Der Autor gehörte der im Stadtteil gegründeten „Wandervogel“-Bewegung an

VON JAN FEDDERSEN

Die Gedenkveranstaltungen und -reihen zum Ersten Weltkrieg, der im Spätsommer vor 100 Jahren begann, werden spärlicher. Was alle Organisatoren sagen, muss auch über die Lesungen in der Schwartzschen Villa an der Grunewaldstraße esagt werden: Menschen unterhalb des vollendeten 50. Lebensjahres sah man dort eher selten. Der vorgestrige Abend in Steglitz trug diesen Charakter ebenso: Eine Generation, deren Urgroßeltern noch Teil der direkten Überlieferung war und ist, hört zu, was damals war.

Auf dem Programm standen Briefe eines nicht weiter prominenten Autors, Wilhelm Pfuhl: Er gehörte mit zu den „Wandervögeln“, einer bürgerlich-aufbrüchigen, absolut modernitätskritischen Bewegung von Jugendlichen, die in Steglitz 1896 gegründet wurde. Pfuhl, über den die Moderatorin Heike Stange in ihrer instruktiven Einführung ins Thema nur zu sagen wusste, dass man über sein Leben vor dem Ersten Weltkrieg wie das nach dem Friedensschluss nichts weiß, war Mediziner und insofern prädestiniert für die „Wandervogel“-Bewegung. Einerseits, als Arzt zwangsläufig, ein Freund wissenschaftlich-technischen Fortschritt, andererseits, als Bürger, der sich vor den ersten Schüben dessen fürchtet, was heute unter dem Stichwort „Globalisierung“ bekannt ist. Viele der Briefe Pfuhls aus dem Ersten Weltkrieg an einen engen Freund sind noch vorhanden. Bernd Ludwig las sie in angemessen unaufgeregtem Timbre vor.

Allenfalls am Rande der Briefe des meist hinter der Front im Krieg tätigen Wilhelm Pfuhl tauchen Militärschlachten auf – meist hält dieser Mediziner sich bereit, um andere ärztlich zu versorgen. Der Ton dieses Wandervogels ist geschäftig, kühl, trotzdem dem Adressaten gegenüber freundschaftlich verbunden. Der Mann, der immerhin einer Bewegung angehörte, die kaum mehr ersehnte als eben einen Krieg, in dem sie sich beweisen konnte und aus der die meisten Momente der „Verhaltenslehren der Kälte“ (Helmut Lethen) erwuchsen, verkörperte diese gewisse Sachlichkeit in den Umgangsformen, weil Gefühle sich für einen Soldaten nicht ziemen.

Pfuhl weiß, gerade weil er nicht direkt im Schützengraben hockt, mehr zu erzählen als das, was der Horror war. Über vier Jahre dehnt sich die Korrespondenz; die Antworten seines Wandervogel-Kameraden existieren zwar nicht, dennoch ahnt man, was deren schriftlicher Dialog ausmacht. Es ist das still wachsende Entsetzen über die Kosten eines Krieges, den die meisten bürgerlichen Jugendlichen sich als etwas verschärften Wanderausflug vorgestellt hatten. In der Tat macht dieser briefeschreibende Mediziner auch Ferien – ja, im Militär des Ersten Weltkriegs gab es offenbar richtige Heimaturlaubsregelungen, die Vorstellung, dass da Männer an die Waffen gehen und bis zur letzten Patrone pausenlos aus dem Tornister leben, ist, so erfahren wir aus den Briefen, irrig.

Wir erfahren, wie normal dieser Krieg anfänglich schien – in Deutschland gab es ja keine leichenübersäten Schlachtfelder. Und wie er für die meisten Soldaten endete,erschöpft und desillusioniert, zumindest bei vielen. Bei den meisten jedoch derart, dass sie sich wenige Jahre später für Nationalsozialistisches begeistern mochten: Im Felde unbesiegt, wie die Militärführung nach Kriegsende verbreitete. Wilhelm Pfuhl jedoch hat keinen Sinn mehr für das Wandervogelhafte: Er wollte nicht mehr mit aufgeheizten, hysterisierten Jugendlichen zu tun haben. Er sah sich nicht mehr als Mann, der heroisch den Jüngeren von diesem Ausflug in die Welt der Gasangriffe, Kugeln und Schrappnellen erzählen wollte.

Die Bewegung der „Wandervögel“ überlebte noch einige Jahre; manche endete im Völkischen, andere, bis in die sechziger Jahre hinein, in der Bewegung der Achtundsechziger. Leute wie Wilhelm Pfuhl haben, ohne zu wissen, dass ihre Briefe öffentlich werden würden, Dokumente der psychischen Verelendung durch den Krieg hinterlassen. Insofern war diese Lesung eindrucksvoll.

■  Das Archiv der „Wandervögel“ ist im Kulturamt Steglitz nach Anmeldung zu besichtigen. Literatur: „Es begann in Steglitz ...“ (Hrsg. von Gerhard Ille und Günter Köhler), Stapp Verlag, Berlin 1987