Valentino, Tarantino, rataratatam

Auf der A 2 Richtung Dortmund: mittenmang im Schädlingbekämpfungskommando

Schmidt insistierte und wagte wie ein Laienprediger eine subtile Interpretation

Ein Job harrte, der nicht abzulehnen war. Kurz vor dem Akt der Erfüllung trafen sich die Profis von „BioEx“ in einer Bier-Boutique unweit des Einsatzortes. Mittenmang in dem Schädlingsbekämpfungskommando ich, Meyer, weniger ein Mann der Tat, als ein Neuling. Insgeheim hatte ich größte Bedenken, ob ich der Aufgabe gewachsen sein würde. Aber auch Zwerge, so ist mir zugetragen worden, haben mal klein angefangen.

Zu meiner Erleichterung lenkte Müller die Plauderei des Quartetts ab in den Sektor einer Konversation, präziser: schien einen Streit zu entfachen, der mit der bevorstehenden Angelegenheit nichts zu tun hatte. „Was meint ihr eigentlich zu diesem Schlager ‚Im Wagen vor mir‘? Kennt ihr doch, oder? Läuft als ‚Kultoldie‘ auf Radiostationen für die Zielgruppe der Sedierten, für die das Wort Gemütlichkeit einen gemütlichen Klang abstrahlt.“ – „Natürlich“, sagte Schulze, „ein gewisser Henri Valentino singt es. Aber ich finde deine garstige Bewertung unpassend und überheblich.“ Schmidt ergänzte, ihm gefiele „der Song“ auch, ein Lied über eine harmlose Tagträumerei, origineller Ansatz und im Übrigen handle es sich um ein Duett, ein Mädchen namens Uschi leihe ihre Stimme.

Genau, sagte Müller, aber was ihn ärgere, ja, aufrege, ja, wütend mache, sei dies: „Der Sänger lässt sich also auf eine Art Selbstgespräch ein auf einer Autobahnfahrt, als er sein Augenmerk auf – richtig – ein junges Mädchen im Wagen vor ihm richtet. Wie das?“ Warum ich vermutete, und zwar nicht zum ersten Mal vermutete, dass es auf der A2 Richtung Dortmund in der Nähe von Bielefeld passiert sein müsse, blieb mir abermals unergründlich und ich hielt das Maul.

Ohnehin schlug Müller eine Schneise ins Konkrete. „Sie scheint hübsch zu sein, vermutet der Sänger aufgeräumt und etwas knorrig-gemütlich, und – das ist’s eben, was mich nervt – er ist sich sicher, dass sie ‚ein junges Mädchen‘ ist ‚und mit viel Gefühl‘ fährt. Das ist doch Unsinn, das ist doch gar nicht realistisch, allzu fern der Wahrscheinlichkeit, solange er nicht wenigstens überholt, um ihr Antlitz im Vorbeifahren zu sehen.“ – „Du bist viel zu streng“, warf Schulze ein, „in der zweiten Strophe wird es doch deutlicher. In dem Mann entfaltet sich sachte lediglich der Möglichkeitssinn, ein romantisches Szenario und …“ Das ließ Müller nicht gelten: „… Präliminarien zu einem spießbürgerlich formatierten Tagtraum, von mir aus, ja, nur kann er doch gar nicht …“ Jetzt warf Schmidt ein, man solle doch werkimmanent die dritte und vierte Strophe beachten, wenn die Verstörung des Mädchens, sein Argwohn artikuliert werde und im Vordergrund stehe. „‚Was will der blöde Kerl da hinter mir nur?‘, fragt sie sich naheliegenderweise und ‚Warum überholt der nicht?‘“ Zwischen ihren Zeilen wird der Mann eingeblendet: „‚Ist sie nicht süß?‘ und ‚So weiches Haar!‘“

Nun war es an Schulze, mit Nachdruck anzuschließen: „Und wie der Verdacht seitens der Frau sich dynamisch steigert, dramatisch, dramaturgisch! ‚… will er mich entführen?‘ fragt sie sich, ihr wird ‚mulmig‘, sie fühlt sich genötigt, ‚die allernächste Abfahrt‘ rauszufahren. Und dann ihre unvergesslichen Schlussverse: ‚Dort werd’ ich mich verstecken hinter irgendwelchen Hecken / Verdammt, dadurch komm ich zu spät nach Haus‘.“ Müller, augenscheinlich mit Einwänden gerüstet, kam nicht zu Wort, weil Schmidt insistierte und wie ein Laienprediger eine subtile Interpretation wagte. Die Reaktion der Frau sei wie „eine Mauer aus Vorurteilen“, die die „Möglichkeit zur Beziehung“ blockiere, wie „das Fragen nach den Motiven“ desgleichen. Ihr „Blick“ sei „eingeengt“ auf „die Mängel des anderen“ … Müller fuhr dazwischen, irgendwie schicksalsergeben, wie ich fand, setzte er den Sermon sarkastisch fort: „… und schon sprachlich ist unübersehbar, dass seitens der Frau egoistische Motive eine Rolle spielen, wie?“ Dass die Beziehung fehlgeschlagen sei und in der Flucht ende, „im Verstecken vor demjenigen, der eigentlich – nur? – Gutes wollte, nicht wahr?“ – „Na, wenn du jetzt mehr so unserer Meinung dich anschließt, bitte gern“, sagte Schulze zufrieden und bestellte als Erster ein frisches Getränk – Coca-Cola Zero.

„Rata, rata, ratatatatam“, begann Müller zu grollen oder zu grunzen, ungefähr murrend zu brummen, hörte nimmer auf, brach dann aber doch ab und platzte damit heraus, dass trotz allem und ohne Widerrede doch gesagt und festgehalten werden dürfe, der Mann könne diese Frau „auch nicht annähernd, nicht ansatzweise, nicht mal im Entferntesten und ü-ber-haupt nicht erkennen, zumal es schon in der dritten Strophe heißt, ‚Nun dämmert’s schon‘.“

Obwohl es längst an der Zeit war, auf unser anstehendes Tagwerk zu sprechen zu kommen, ließ ich es bleiben, indessen Schulze und Schmidt über den Begriff der Nächstenliebe diskutieren wollten. Abends dann machten wir uns auf in den Filmclub drei Straßen weiter, wo „Jackie Brown“ gezeigt wurde, mein Lieblingsfilm von Tarantino.

DIETRICH ZUR NEDDEN