„Ich habe begriffen“

Justine Henin gewinnt zum vierten Mal die French Open. Den Sieg widmet sie ihrer Familie und zeigt sich überrascht, dass sie nach all ihren Problemen in diesem Jahr wieder ganz oben angekommen ist

AUS PARIS DORIS HENKEL

Andere mögen die Zahl ihrer Siege zählen, sie genießt die Stärke neuer, alter Gefühle. Keine Viertelstunde nach dem Gewinn ihres vierten Titels in Paris fand sich Justine Henin im Kreis ihrer Familie ein. Einem nach dem anderen fiel sie in die Arme: den beiden Brüdern, der Schwester und natürlich auch Carlos Rodriguez, ihrem Coach; drumherum tollten deren Kinder. Die Großen stießen mit Champagner an, und es sah so aus, als seien keine Wünsche offen in diesem Kreis.

In ihrer Rede auf dem Podium hatte Henin der Familie den Titel gewidmet, und später erzählte sie sichtlich bewegt, was all das im Kontext ihres komplizierten Lebens zu bedeuten hat. Es ist eine Geschichte, wie man sie manchmal erlebt, wenn sich Grundfeste von heute auf morgen verschieben. Nach der Trennung von ihrem Mann Pierre-Yves Hardenne Ende des vergangenen Jahres suchte sie nach neuen Wegen und entdeckte alte Werte. Vor drei Monaten entschloss sie sich, Kontakt zu ihrem Vater und den Geschwistern aufzunehmen, die sie vorher acht lange Jahre lang aus ihrem Leben verbannt hatte. Über Einzelheiten mag sie nicht reden, aber sie versichert, das sei ein riesiger Schritt in ihrem Leben gewesen. Sie unterhielt sich lange mit Rodriguez, der sie schon seit elf Jahren betreut und der in dieser Zeit zur wichtigsten Konstante nicht nur ihrer Karriere geworden ist. Sie ist noch immer überrascht, wie sie die Höhen und Tiefen dieses Jahres überstanden hat, aber die Erklärung ist letztlich ganz einfach.

„Irgendwann“, sagt Justine Henin, „habe ich begriffen, dass das Leben genau so ist. Es geht rauf und runter, und das musst du akzeptieren, wenn du weitergehen willst.“ Sie wollte diesen vierten Titel mindestens so sehr wie den ersten vor vier Jahren, den sie damals ihrer früh verstorbenen Mutter gewidmet hatte. Um ein Zeichen für die Familie zu setzen und sich selbst dafür zu belohnen, über den eigenen Schatten gesprungen zu sein. Und weil sie so viel darin sah, verbrachte sie wieder mal eine zum Fürchten unruhige Nacht vor dem Finale, und war, als das Spiel begann, nervöser als Ana Ivanovic, die hoffnungsvolle Debütantin.

Die Geschichte des Spiels ist schnell erzählt. Zehn Minuten lang spielte Ivanovic forsch und fröhlich drauflos, bis ihr beim Stand von 1:0 und 40:0 der erste Fehler unterlief. Von einer Sekunde auf die andere wurde ihr klar, wo sie sich befand: Im Finale der French Open, im wichtigsten Spiel ihres Lebens, auf einem Platz vor voll besetzten Tribünen. Die Erkenntnis legte ihre Nerven bloß, ließ den Arm zittern und zerstörte das Spiel; ihres vor allem. Es dauerte schließlich nicht mehr als 65 Minuten. Ana Ivanovic versicherte tapfer, beim nächsten Mal werde sie es besser machen. Ihr Lächeln jedenfalls hatte sie schon wieder gefunden, bevor Serbiens Vize-Präsident und der serbische Botschafter in Frankreich einen Blumenstrauß überreichten und sich für die Werbung bedankten, die sie, Jelena Jankovic und Novak Djokovic, in den beiden Wochen der French Open für Serbien gemacht hatten.

Justine Henin braucht keine Komplimente mehr. Dazu genügt der Blick auf ihren vierten Titel im Stade Roland Garros, den dritten hintereinander. Sie fühlt sich auf dem Court Central so sehr zu Hause wie Boris Becker einst auf Wimbledons Centre Court; er sprach von seinem Wohnzimmer, sie sagt, es sei ihr Garten. Ein Garten, in dem sie ihre Fähigkeiten üppig blühen lässt. Nirgendwo kommen ihre technische Finesse und die überragende Vielseitigkeit besser zur Geltung.

Im Moment sieht es so aus, als sei es nur eine Frage der Zeit, bis sie die nächste historische Marke erreicht haben wird. Diesmal war es die von Monica Seles, die zwischen 1990 und 1992 als letzte und bis dahin einzige Spielerin drei Titel in Serie in Paris gewonnen hatte. In der Liste der Siege insgesamt steht die Belgierin nun schon an vierter Stelle hinter Chris Evert (7), Steffi Graf und Suzanne Lenglen (6) und Margaret Court (5).