Mein Feind, der Baum

Meine Obstbaumwiese ist jetzt im Juni noch immer nicht gemäht. Vom Unglück eines Grundstücksbesitzers

Haus gebaut, Sohn gezeugt, Baum gepflanzt. Eigentlich könnte ich mich zurücklehnen und die Früchte des Lebens genießen. Doch zum Dach regnet es herein, die Erziehung läuft mir häufig aus dem Ruder, und meine Apfelbäume sehen wie struppige Igel aus, weil ich sie seit Jahren nicht geschnitten habe. Wer immer die drei Zielmarken im Leben eines Mannes in die Welt setzte, man bringe ihn mir. Ich habe mit ihm zu reden.

Durch unglückliche Umstände (Erbschaft) bin ich vor einigen Jahren in den Besitz von einer Wiese mit zwanzig Apfel- Zwetschgen-, Birnen- und Quittenbäumen gekommen, die einmal meinem Urgroßvater gehörte. Manche der Bäume stehen dort seit hundert Jahren. Sie wurden von meinen Ahnen gepflanzt. Ich fühle mich ihnen im Grabe noch verpflichtet, diese Obstwiese nicht verkommen zu lassen.

Im Winter sollte man die Äste zurückschneiden. Im Frühling die Wiese mähen, im Sommer immer wieder mähen und im Herbst die Früchte auflesen und sie in Säcken zur Früchteverwertung oder in die Obstpresse fahren. So jedenfalls tun es alle meine Nachbarn um meine Wiese herum. Meine Wiese ist leicht zu erkennen: Das Gras ist auch jetzt im Juni noch nicht geschnitten, die Äste der Bäume hängen bis auf den Boden, manche sind im vergangenen Winter sogar umgestürzt und liegen jetzt quer auf der Erde. Diese Wiese ist der Schandfleck der ganzen Gegend. Jeder Obst- und Gartenbauverein würde mir wegen unehrenhaften Verhaltens fristlos die Mitgliedschaft kündigen.

Anfangs hatte ich mich ja über die unerwartete Grundstückserbschaft noch gefreut. Und ich hatte mir sogar nachträglich eine Anhängerkupplung an mein Auto anbauen lassen. Ein „Gütlesbesitzer“, wie man in unserer Gegend sagt, ist ohne Anhängerkupplung kein ernst zu nehmender Mensch. Überhaupt macht die Anhängerkupplung (AHK) aus einem Schwaben erst einen Schwaben. Zugereiste wundern sich oft Jahre lang, warum sie von ihren schwäbischen Mitmenschen nicht richtig akzeptiert werden. Bis sie sich eine Anhängerkupplung ans Auto machen lassen. Es gibt immer etwas zu transportieren, oder wie der Lateiner sagt: transportare necesse est. Vor allem samstags fahren südlich des Mains sehr viele Einheimische ihren Hänger spazieren. Oft ist er leer, aber man hat ihn trotzdem mal vorsichtshalber angehängt. Man kann ja nie wissen.

Als ich immer weniger Zeit fand, die Baumwiese zu pflegen, ließen mich meine Nachbarn ihre Verachtung deutlich spüren. So geht man doch nicht mit Apfelbäumen um, und schon gar nicht, wenn sie der eigene Großvater gepflanzt hat! An den wenigen Tagen im Jahr, an denen ich das Grundstück noch betrete, hoffe ich, keinen dieser Nachbarn anzutreffen, denn ich schäme mich vor ihnen. Andererseits: Hat einer von denen jemals ausgerechnet, was selbst erzeugter Apfelsaft kosten würde, rechnete man die ganze Arbeitszeit darin ein? Ein Vermögen. Guten Bio-Apfelsaft gibt es schon recht günstig im Supermarkt. Aber diesen „Apfel-Schwaben“ geht es offenbar gar nicht um den Saft. Viele werfen ihre Äpfel im Herbst sogar auf den Kompost. Es geht ihnen vielmehr darum, allen anderen Grundstücksnachbarn zu beweisen, dass sie ordentliche Menschen sind, die ihre Wiese mähen, die Zweige schneiden, die Früchte auflesen – und sei es für den Komposthaufen.

Ich kann das Grundstück weder verkaufen noch verpachten. Es würde sich in meiner Verwandtschaft schnell herumsprechen, und ich würde nie wieder etwas erben. Einen Sturm der Entrüstung würde es auslösen. Ich kann es nur verkommen lassen und mich schuldig fühlen. So wie jener Baumbesitzer, der sich von seiner Familie zu einer Urlaubsreise im Herbst nach Gran Canaria überreden ließ. Unglücklich saß er im Strandcafé und stöhnte auf Schwäbisch: „Drhoim sott ma d’Äpfel ra do“ (Zu Hause müsste man die Äpfel ernten).

PHILIPP MAUSSHARDT über KLATSCH

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