Tage des Zitterns

Ausnahmezustand in Peking: Die älteren Schüler schreiben ihre „Höhere Prüfung“ – und die ist hart

Vor der Sanlitun-Mittelschule Nr. 1 steht ein Polizist und verscheucht Autos und jeden, der die Stimme erhebt. Sanitäter verteilen Wasser in der brütenden Hitze. Eine Traube von fast 50 Eltern wartet vor dem Eingangstor, einige haben ein Stück Zeitung ausgebreitet und sitzen auf dem Bürgersteig, andere erfrischen sich im Café gegenüber mit grünem Tee.

Zwei Tage lang herrscht Ausnahmezustand in Peking und im ganzen Land, und das Schlüsselwort dazu heißt „Gaokao“, was etwa mit „Höhere Prüfung“ zu übersetzen ist: Rund 9, 5 Millionen Jungen und Mädchen brüten am Donnerstag und Freitag über Testaufgaben, deren korrekte Lösung ihre Zukunft bestimmt – die Zulassung zu einer der über 1.000 Universitäten und Fachhochschulen des Landes. Schwarze Tage nennen die Chinesen diese Tage im Juni.

Für Frau Zhang und ihrer Tochter Wang Mei entscheidet sich zum Beispiel in diesen Stunden, ob die Qual der letzten Jahre vergeblich war oder nicht. „Ich bin so nervös, noch schlimmer als meine Tochter“, sagt Zhang, die als Verkäuferin in einem Supermarkt arbeitet. Schon im Kindergarten hatte die kleine Wang Mei sich an das tägliche Pauken gewöhnen müssen. Obwohl ihr das Kind leid tat, feuerte die Mutter es immer wieder an: „Nicht aufgeben!“

Die Hochschulen haben allerdings nur 2,6 Millionen Studienplätze zu vergeben. Jene mit schlechten Prüfungsergebnissen geraten an schlechte Provinzuniversitäten. Wer durchfällt, muss ein Jahr auf die nächste Chance warten. Das bittere Prüfungssystem, das die Chinesen mittlerweile wieder mit den traditionellen Examen im alten Kaiserreich vergleichen, ist seit Jahren unter Pädagogen und Eltern umstritten: Der Druck auf die Kinder ist so enorm, dass viele nicht lernen, spielerisch und selbständig zu denken.

Jedes Jahr um diese Zeit berichten Chinas Zeitungen von verzweifelten Schülern, die sich umbrachten, weil sie die Prüfung verpatzt haben. Deshalb beschäftigen sich Radio- und TV-Sendungen mit der Frage, wie man Prüfungsangst abbauen kann. „Am besten ist es, am Vorabend gar nichts zu tun“, rät eine Psychologin im Pekinger Rundfunk. „Was man bis dahin nicht gelernt hat, kommt sowieso nicht mehr in den Kopf herein.“

„Ohne Studium hat man heutzutage keine Chance“, bekräftigt ein Vater, der nervös auf den Eingang starrt. „Ohne Diplom kriegt man heutzutage keinen Job.“

In China fehlen jedes Jahr rund 10 Millionen Arbeitsplätze. Allerdings bietet auch ein Hochschulabschluss längst keine Garantie mehr für eine sichere Zukunft, viele Universitätsabsolventen finden keine Stelle. Aber das kümmert die Eltern vor der Sanlitun-Mittelschule Nr. 1 in diesen Tagen wenig. Frau Zhang: „Hauptsache, sie schafft den Sprung an die Uni. Wer weiß schon, was in vier Jahren ist?“

An der Menge aufgeregter Mütter und Väter spaziert die 35-jährige Sekretärin Li mit ihrem noch nicht fünfjährigen Sohn vorbei. Sie schickt den Knaben zur „Schulung des Gehirns“ nicht nur in den Kindergarten, sondern auch zum Klavier- und Geigenunterricht. „Ich weiß, es ist eigentlich zu viel für ihn“, räumt sie ein. „Aber was soll ich machen, er muss vorankommen. Es ist doch mein einziges Kind!“ In zwölf Jahren wird sie hier nervös vor der Tür stehen und auf ihren Sohn warten.JUTTA LIETSCH, PEKING