Die Kunst der Stunde

PROJEKT In der Schwankhalle, der „umgedrehten Kommode“ und Angestelltenkammer ist die Kunstausstellung „Zur Nachahmung empfohlen!“ zu erleben

Ist das noch Kunst, schon weise Narretei oder gar Wissenschaft im Konjunktiv? Die meisten Exponate sind all das, ideenreich anschauliche Grenzgänge

Von Jens Fischer

Aber hallo! Will die Kunst wieder mit politischer Relevanz glänzen und mehr als nur spärliche Öffentlichkeit herstellen? Möchte sie nicht mehr nur Seismograf, sondern Initiator gesellschaftlicher Veränderungen sein? „Die Expeditionen in Ästhetik und Nachhaltigkeit zeigen künstlerische Praktiken, die zur Erhaltung des Planeten beitragen und Einfluss auf bewusstes Konsumverhalten nehmen wollen“ und dabei „ökonomisch rentabel“ seien. Geht da was?

Lautstark jedenfalls behauptet das die Einladung zur Wanderausstellung „Zur Nachahmung empfohlen!“. Zweifel feuerwerken dem Biosupermarkt-Kunden und überzeugten Ökostrom-Bezieher durch das aufgeklärte Bewusstsein. Ökologische Kunst, Recycling-Ästhetik, Nachhaltigkeit: Gibt es schon wieder neue moralische Ideen für einen sofortigen Verzicht? Oder sind diese Begriffe nicht längst verschlissen, ihre Verfallsdaten überschritten, so inflationär wurden sie bereits benutzt?

Kritisch neugierig bestapfen wir also erst mal ein Plastiktüten-Bodenmosaik. Es soll daran erinnern, dass solche Objekte in einer Sekunde hergestellt werden, aber 1.000 Jahre zum Verrotten brauchen. Wir stehen atmenden Laubhaufen gegenüber, Lebenskraft-Sinnbild der Natur, und durchschreiten unwirkliche Schaumstoffwälder. Wir sehen und staunen. Die meisten der mehr als 40 Ausstellungswerke sind in der „umgedrehten Kommode“ zu erleben, deren Zwischennutzung ganz im Sinne der Kunst steht, die den Blick für Prozesshaftes und Übergänge schärfen soll.

An Gustavo Romanos „Time Note Project“-Verkaufsstand kann jeder seine individuelle Aufmerksamkeitsökonomie überdenken. „Wofür wollen Sie Zeit haben?“, fragt ein Berater – und präsentiert diese in Gut- bzw. Geldschein-Form als Ware.

Ein Rollenspiel hebt an um eine kostbare Ressource, den Umgang mit ihr und ihre Endlichkeit für jeden von uns. Wen wunderte es da, dass während der Vernissage vorrangig private Zeit-Wünsche geäußert wurden und niemand nach mehr Arbeitszeit verlangte? Dass diese Installation ihre Wirkung – herausgelöst aus dem Kunstkontext – verstärkt im öffentlichen Raum entfaltet, bezeugen zudem Videos einer Performance vor Publikum auf dem Berliner Alexanderplatz.

Faszinierend einfach gedacht und betörend schlicht inszeniert das in der Angestelltenkammer präsentierte Projekt von Christin Lahr. Auf einem Monitor sind abgefilmte Überweisungsträger zu sehen. Seit dem 25. Mai 2009 spendet Lahr täglich einen Cent an das Finanzministerium, um der Staatsverschuldung in „homöopathischen Dosen“ entgegenzuarbeiten. Gleichzeitig tippt die Künstlerin unter Verwendungszweck jeweils 108 Zeichen fortlaufend aus Kalle Marxens „Kapital“ ab. In 43 Jahren sind das ganze Werk und 15.709 Cents unwiderruflich gespeichert auf Konten und Festplatten der Bundesbank, ein doppelter Kapitalzuwachs sozusagen.

Dionisio González zeigt seine Version der vietnamesischen Halong-Bucht. Wo vor Jahren James Bond in „Der Morgen stirbt nie“ vor weltwunderhafter Naturkulisse agierte, schwimmen heute Slum-Boote. Fotografisch ästhetisiert Gonzáles diese, um einen Blick fernab von elendstouristischer Betroffenheit zu kultivieren – und so auf die Recyclingpraxis zu verweisen. Alternative Lebensform oder Mahnmal der Naturzerstörung? Die Frage bleibt.

Beeindruckend auch Jae Rhim Lees „Infinity Burial Project“, welches die Konzeption eines ökologischen Bestattungssystems beschreibt. Kurz bevor der Körper in einen Container zwischengelagert werden soll, um in einen post-mortalen Komposthaufen verwandelt zu werden, präsentiert er sich noch einmal in einem Beerdigungsanzug. Diesem wurden Pilzsporen eingewebt, die helfen sollen, rein biologisch Methangas, also Energie zu produzieren. Selbst wenn es etwas makaber scheinen mag, tote Körper dem Nützlichkeitsgedanken zu unterwerfen, um ihn gleichzeitig platzsparend zu entsorgen, enttabuisiert Lee auf überraschende Weise den Tod, so dass der Wiedergeburt des Körpers in Form eines Kanisters Ökobrennstoff nichts mehr im Wege steht.

Ist das noch Kunst, schon weise Narretei oder gar Wissenschaft im Konjunktiv? Die meisten Exponate sind all das, ideenreich anschauliche Grenzgänge. Witzig, wütend, kritisch wird naturwissenschaftliches Wissen reflektiert und künstlerisch in Praxis übersetzt. Oder als Bild globaler Probleme inszeniert. Néle Azevado lässt Eisfigruen schmelzen – so gewinnt das Thema Klimawandel prägnant an Sinnlichkeit. Wider der Ideologie des Grünen Punktes hat Nana Petzet ihren Haushalt aus Abfall zusammengestellt. Andere Künstler bauen Autos zu Fahrrädern um.

Dass eine Ausstellung angenommen wird, zeigt sich auch daran, ob sich Besuchergruppen spielerisch die Installationen aneignen oder nur ehrfürchtig davor verharren. Vernissagen-Gäste nehmen jedenfalls spontan auf den Bürostuhl der „Adopted“-Agentur Platz. Sie möchte europäische Großstädter ohne große Familienbindung in Afrika zur Adoption freigeben. Motto: „Wir finden eine Familie, die sich um sie sorgt.“ Mixed-Media-Künstlerin Gudrum F. Widlok tauscht so familiäres Mitgefühl gegen Hilfsleistungen. 150 tatsächlich vermittelte Patenschaften zeigen, dass der künstlerische Anfangsverdacht, Gefühlsressourcen müssten aus ärmeren Ländern exportiert werden, um ein westliches Defizit auszugleichen, nicht stimmt: Es wird ein beiderseitig befruchtender Austausch ermöglicht.

Also ein weiteres Beispiel dafür, wie anregend vielschichtig und mit welch hohem Spaßfaktor es dieser Schau gelingt, „Nachhaltigkeit“ zu vermitteln. Lustwandeln im Ästhetik-Parcours rund um Gentechnik, Artensterben, Klimawandel, Umweltzerstörung, Recycling ist also unbedingt zur Nachahmung empfohlen.

Bis zum 28. August im Wasserturm, in der Schwankhalle und in der Arbeitnehmerkammer. Weitere Infos: www.schwankhalle.de