Nützliche Klischees

FESTIVAL „Africtions – Captured By Dance“ zeigt in Bremen und Ludwigshafen Einblicke in die aktuelle Tanzszene Afrikas und hat dabei auch Literatur, Musik und Film im Blick

Es ist den Veranstaltern von „Africtions – Captured By Dance“ hoch anzurechnen, dass sie sich bewusst sind, dass nicht gleich jegliches Interesse an Afrika in gleichem Maße unschuldiger Neugier verpflichtet ist

VON ANDREAS SCHNELL

Es ist wohl kaum ein Zufall, dass die kulturelle Neuentdeckung Afrikas der letzten Jahre zeitlich zusammenfällt mit der Entdeckung eines Kontinents als Standort. Und es ist den Verantwortlichen des Festivals „Africtions – Captured By Dance“ hoch anzurechnen, dass sie sich des Umstands bewusst sind, dass nicht gleich jegliches Interesse am Kontinent in gleichem Maße unschuldiger Neugier verpflichtet ist. Die Dramaturgin Anke Euler verweist in ihrem Grußwort im Programmheft auf den Reichtum Afrikas, der nicht nur kulturell ist: „Aber auch der Kampf um Ressourcen tritt in eine neue Dimension, der unser gemeinsamer Widerstand gebührt.“ Das wirft gewiss zugleich auch neue Fragen auf, nicht zuletzt, wer das darin ausgedrückte „Wir“ wäre und das Andere, dem sich zu widersetzen wäre. Aber es steckt unzweifelhaft darin die Feststellung, dass es so etwas wie Interessensgegensätze gibt. Und die daraus entstehenden Konflikte entscheidet meist die Masse der Machtmittel.

Ein Tanzfestival bleibt dabei derweil immer ein Tanzfestival, auch wenn das Programm des gemeinsam vom Bremer „Steptext Dance Project“, dem Theater im Pfahlbau in Ludwigshafen und der Bielefelder „Biennale Passages“ veranstaltete „Africtions“ den Blick auch auf Literatur, Musik und Film lenkt und immer wieder das Gespräch sucht. Und das auch mit Vertretern aus Wirtschaft und Politik, die am vergangenen Donnerstag über „Deutschland und afrikanische Länder als Partner – Chancen für Bremen“ sprachen. Am gleichen Abend gab es dann die offizielle Eröffnung des Festivals mit „Boxom“, einem Stück des Bremer Choreografen Helge Letonja, der dafür nicht nur ein interkontinentales Ensemble zusammenstellte, sondern auch interdisziplinär arbeitete: Die Soul-Musikerin Y’Akoto komponierte für „Boxom“ Songs, der Soundkünstler Florian Tippe webt dazu einen Klangteppich – und die Kostüme stammen von der senegalesischen Modedesignerin Adama Paris.

Und in seiner vielfältigen Linienziehung, zwischen Afrika und Europa, Mann und Frau, Stereotyp und dessen Reflexion, war diese Produktion eine schöne Einleitung ins Thema des Festivals. Weil der Fettnapf des Klischees gefährlich nahe liegt, kann es ertragreich sein, beherzt in ihn hineinzutreten und ihn in seine Einzelteile zu zerlegen. Der Titel „Boxom“ deutet das schon an. Das Wort aus dem Wolof fasst die senegalesische Gesellschaft bildlich als zusammengeknäueltes Blatt Papier auf. Was für die Form des Abends bedeutet, dass die dadurch sich ergebenden Realitätsausschnitte sich erst nach und nach in ihrem Zusammenhang entschlüsseln lassen und das nicht notwendig vollständig. Der Szenenbogen, den Letonja mit seinem enorm präsenten und präzisen Ensemble entwickelt hat, wechselt entsprechend oft Perspektive und Thema. Geschlechterrollen, Migration, Mittelmeer, klar, aber eben auch die Klischees vom Anderen, die ja gerade als Stereotypisierungen in hohem Maße Realität herstellen.

Solchermaßen vorbereitet darf sich das Publikum nun auf so einiges gefasst machen. Am heutigen Samstag geht es beispielsweise weiter mit „Afro-Dites/Kaddu Jigeen!“ von Germaine Acogny & Patrick Acogny und der Company Jant-Bi Jigeen, der ersten rein weiblichen Tanzcompanie im Senegal, die Alltagswelten des Senegal tänzerisch erkunden, von Polygamie und Liebe über Migration und unbezahlte Arbeit bis zu Prostitution und Vergewaltigung. Am Sonntag sind dann in der Schwankhalle zwei Produktionen zu sehen: Nadia Beugrés Solo „Quartiers Libres“ ist eine Parabel auf das Ringen um Selbstermächtigung, während Gregory Maqoma mit der Vuyani Dance Company in „Blind“ erkundet, wie sich Tradition und Fortschritt zueinander verhalten.

■ bis 16. November, Theater Bremen, Schwankhalle, Theater am Leibnizplatz;

das gesamte Programm im Internet: africtions.com