DDR-Nostalgie im Glas

SCHNAPS Die Schilkin-Brennerei in Kaulsdorf produziert seit 82 Jahren Hochprozentiges. Verkaufsschlager ist ein Pfefferminzlikör „Berliner Luft“ in der Fernsehturmflasche

■ 1948 gründete Sergei Apollonowitsch Schilkin, ein deutscher Unternehmer, geboren in Sankt Petersburg, die Schilkin-Brennerei in Berlin-Kaulsdorf.

■ In der DDR wurde der Betrieb 1971 verstaatlicht, nach der Wiedervereinigung reprivatisiert.

■ Zu diesem Zeitpunkt war Seregei Apollonowitsch Schilkin bereits Pensionär, übernahm den Betrieb aber doch noch einmal für zwei Jahre. Schließlich übergab der Unterstützer des Tierparks in Friedrichsfelde und erklärte SPD-Anhänger die Geschäfte an seinen Schwiegersohn.

■ Schilkin-Schnäpse werden heute auch nach Marokko, Israel, Dubai, China und den USA exportiert. (hauser)

VON FRANZISKA HAUSER

Dieses Jahr wird Berlin siebenhundertsiebenundsiebzig. Eine Schnapszahl. Vielen Berlinern fällt zum Thema Schnaps und Berlin die Schilkin-Brennerei ein. Die Spirituosenfabrik wird dieses Jahr zweiundachtzig, aber brennt ihr Hochprozentiges seit sechsundsechzig Jahren an der Bundesstraße 1 in Alt-Kaulsdorf. Wieder eine Schnapszahl. Ihr Gründer Sergei Apollonowitsch Schilkin, der das alte Zarenwodkarezept aus Sankt Petersburg nach Berlin gebracht hatte, wäre im nächsten Jahr hundert Jahre alt geworden. Das ist keine Schnapszahl, aber für den Verkaufsleiter von Schilkin, Hans-Jörg Ullrich, trotzdem ein Grund, auf den alten Berliner Schnapskönig anzustoßen.

Ullrich kommt ursprünglich aus Halle und war Polizist bei der Kriminalpolizei. Vor zwanzig Jahren aber wurde er nach Berlin versetzt und wechselte das Fach. Der gut gelaunte Mann ist offen für Ungewöhnliches. Was ihn als Verkaufsleiter täglich beschäftigt, ist die Frage, wer die beliebten Spirituosen mit DDR-Vergangenheit kauft oder wie man den Kunden von heute anspricht.

Berliner Kümmel unbeliebt

Damals zur 750-Jahr-Feier, erinnert sich Ullrich, wurde der Geschmack einfach vom Politbüro angeordnet: Schilkin musste Kaulsdorfer Jubiläumsbitter herstellen. „Bitter trinkt heute kein Mensch mehr“, sagt der Verkaufsleiter, die Produktion bei Schilkin sei längst eingestellt, Halbbitter aber funktioniere.

Auch der Berliner Kümmel ist nicht mehr beliebt. Es gibt ihn zwar im Nikolaiviertel – dort, wo die Touristen Bulette, Eisbein und Kassler mit Sauerkraut bestellen. Kümmel aber bestellen sie nicht, den bekommen sie als regionale Spirituose zur Rechnung dazu.

Die Berliner Wahrzeichen, die bei den Kunden den Spaßfaktor ausmachen, weiß Verkaufsleiter Ullrich, befinden sich im Osten. So werde der Fernsehturm inzwischen auch im Westteil der Stadt vollkommen angenommen. Das jedenfalls zeigen die Verkaufszahlen der Fernsehturmflasche. Weniger anfangen ließe sich marketingmäßig dagegen mit der Gedächtniskirche, und auch die Reichstagsflasche funktioniere nicht im Verkauf.

Mehr als elf Millionen Touristen besuchen Berlin jährlich. Schilkins Pfefferminzlikör namens Berliner Luft in der Fernsehturmflasche nehmen vor allem die Engländer mit nach Hause. Danach kommen die Russen. Hans-Jörg Ullrich glaubt allerdings nicht, dass die Berlinbesucher Flaschen wie die Brandenburger-Tor-Flasche kaufen, um sie wirklich auszutrinken. „Da geht’s nicht um den Inhalt – die Flasche stellt man sich als Erinnerung ins Regal.“

Dienstags Zarenwodka

Die Spirituosenfabrik Schilkin lebt zum großen Teil von der DDR-Nostalgie: Wodka mit Zitrone war damals der Verkaufsschlager, erinnert sich Ullrich, und Timms Saurer, die meistverkaufte Spirituose in der DDR, hat sich bis heute durchgesetzt. Benannt wurde das Produkt nach dem alten Chefdestillateur, dem Chemiker Gerhard Timm.

Bis 1932 gab es in Berlin circa hundertvierzig Spirituosenfabrikanten, nach dem Mauerbau im Ostteil ganze zwölf. Die Betriebe wurden verstaatlicht, die meisten gingen insolvent. In Westberlin gab es circa fünfundvierzig Brennereien, wobei die meisten hier dem Konkurrenzdruck nicht standhalten konnten.

Bei Schilkin wird heute nur noch der Zarenwodka selbst gebrannt. Alles andere lässt der Betrieb bei großen Brennereien nach seinen Rezepturen herstellen. Immer dienstags und donnerstags wird im sogenannten Kabinettstübchen die Tagesproduktion blind verkostet. Die Testrunde besteht aus acht Mitarbeitern. „Und nicht alles wird jedes Mal wieder ausgespuckt“, sagt Ullrich, „das sind manchmal ganz schöne Mengen.“ Spürbar angetrunken sei bisher aber noch niemand gewesen.

Alkohol gehört zum Leben

Jeder der fünfunddreißig Mitarbeiter bei Schilkin erhält im Monat eine Flasche Deputat seiner Wahl. Zu runden Jubiläen, oder wenn ein Kind geboren wird, bekommt man zwei Flaschen. Alkohol gehört zum Leben, heißt es im Betrieb. Doch müssen die Mitarbeiter ihren Konsum kontrollieren. Es gelten strenge Regeln: Wird jemand beim Trinken am Arbeitsplatz erwischt, wird er sofort entlassen. Außerdem gibt es immer wieder Schulungen. „Letztendlich sind wir darauf angewiesen, dass jeder selbst vernünftig mit dem Alkohol umgeht“, sagt Ullrich. In den letzten zwanzig Jahren aber musste kein Mitarbeiter gekündigt werden. „Wir sind ein Familienunternehmen, auch wenn wir eigentlich gar nicht verwandt sind“, beschreibt der Verkaufsleiter das Miteinander in der Kaulsdorfer Spirituosenfabrik. Die Kinder der Mitarbeiter erhalten bei Interesse die Garantie, einen Ausbildungsplatz im Betrieb zu bekommen.

Acht Lehrlinge bildet Schilkins jedes Jahr aus, einige werden sogar übernommen. 2003 wurde das Unternehmen dafür mit dem Hellersdorfer Ausbildungsoscar ausgezeichnet. Man fühle sich verantwortlich für seine Mitarbeiter, sagt Ullrich – auch wenn der gesamte Spirituosenmarkt in den letzten Jahren fast zur Hälfte weggebrochen sei. Ein Grund für die rückläufigen Zahlen ist, dass heute ab siebzig Jahren bedeutend weniger Alkohol getrunken werde. „Der Rentner, der zu Hause mit seinem Bonekamp auf dem Sofa sitzt, bis die Nase rot wird, der ist fast ausgestorben“, sagt Ullrich, „der Rentner von heute ist unterwegs und guckt sich die Welt an.“