Auf der Spur der Witwen

Die Menschen sind scharf auf Wissen. Vor allem Kinder. Das zeigte sich in der Langen Nacht der Wissenschaften am vergangenen Wochenende in Berlin. Auf dem Popfestival des Wissens wurden Umrisse des neuen Lernens sichtbar

VON CHRISTIAN FÜLLER

Die Schwarze Witwe kennt jeder. Wahrscheinlich, weil sie ihr Spinnenmännchen verspeist. Nachdem sie sich von ihm hat begatten lassen. Glücklicherweise lebt die Schwarze Witwe in Nordamerika. Nun soll es aber auch eine Europäische Witwe geben. Was die Besucher im Naturkundemuseum nervös macht. Von Südeuropa aus, sagt die Spinnenwärterin, versucht sie den Sprung nach Norden zu schaffen. Weil es in Berlin inzwischen auch so schön warm ist.

Warm? Es ist drückend heiß im dritten Stock des Archivs der Tiere. Die Spinnenfrau hat vor Ohmachtsanfällen gewarnt. Um die Gäste herum 250.000 Spinnen, Skorpione und Zecken. Glücklicherweise in Glaskaraffen. Hinter den Türen von Schränken, die aus einer anderen Zeit zu stammen scheinen. Aber es ist nicht zu leugnen. Da liegt die Europäische Witwe vor 15 Neugierigen in einer Glasschale. Und in einer Plastebox krabbelt sogar noch eine. Für den Menschen nicht so gefährlich, beruhigt die kundige Dame, nur fünf Prozent der Bisse enden tödlich. „Ich bring die Spinnen nicht um“, erklärt eine Nachtschwärmerin, als müsste sie sich rechtfertigen, „ich bring sie immer auf den Balkon.“

Es wird dunkel bei der Langen Nacht der Wissenschaften in Berlin. Die größte der klugen deutschen Nächte, bei denen Forscher ihre Labore öffnen, hat am vergangenen Samstag weit über 20.000 Besucher gezählt. Die Menschen sind scharf auf Wissen. Sie suchten im Schnitt in dieser Nacht fünf oder sechs Institute und Stationen auf. Am spannendsten war es, wenn Kinder dabei waren. Weil die Forscher dann noch besser erklären müssen.

Auch im Reich der Spinnen haben nicht die Großen das Sagen. Vorne stehen drei Jungs, Kinn knapp über der Tischkante. Auge in Auge mit Dornfinger, Federfußspinne und Skorpion. Jederzeit bereit, die Spinnenfrau mit Fragen zu bombardieren. Wie groß? Woher? Immer wieder: Wieso, weshalb, warum? Während die ersten Erwachsenen mit der angekündigten Ohnmacht kämpfen, kichern die Jungen über die Wissenschaftlerin, weil sie sagt: „So eine Zecke sieht eigentlich hübsch aus.“

Die Lange Nacht gibt es jetzt zum fünften Mal. Sie ist etabliert. Die Wissenschaft legt dort dem Bürger Rechenschaft ab. Manchmal auf spektakuläre Art, wenn die Besucher eine Reise in ein Knie unternehmen oder sich von einem Roboterhund beschnüffeln lassen können. Aber die Lange Nacht ist nicht nur ein Popfestival des Wissens. Dort werden Umrisse des neuen Lernens sichtbar.

Der kleine Lenny, 5, guckt in einen Dreckhaufen. Nur ist es diesmal ganz anders, als wenn er draußen nach dem Regen spielt. Der Blick geht durch ein Mikroskop in die feuchte Erde hinein. Er sieht eine riesenhaft wirkende Struktur. Wie ein erdverschmiertes Klettergerüst, durch das seltsame Spielkameraden steigen. Kleine, ja winzige Spinnen, Würmchen, Tausendfüßler. Da krabbelt eine Wanze heran. „Man träumt nur manchmal davon“, beruhigt Jason A. Dunlop. Er erklärt dem Jungen, das diese Lebewesen die Recyclingtruppe des Bodens sind. Sie entsorgen im Herbst das Laub, sie verwandeln Äste und Rasen im Kompost zu guter Erde. Wie magnetisch angezogen fasst Lenny nach der Petrischale. Er nimmt die Kriechtiere am liebsten in die Hand.

Kein Problem hier im Carl-Zeiss-Mikroskopierzentrum des Naturkundemuseums. Hier sind Profis am Werk, hier gibt es keinerlei Hürden für die kleinen Forscher. „Die Kinder sollen direkt mit den Wissenschaftlern reden können“, sagt Jason Dunlop. Sein Kollege Oliver Coleman ergänzt: „Wir wollen ein Forschermilieu erzeugen. Wir zeigen Kindern, dass Lernen und Forschen Spaß macht – das ist ja an den Schulen oft nicht so.“

Dunlop ist Brite und Kurator „von allem, was krabbelt“, also der verantwortliche Wissenschaftler für die 250.000 Spinnen, Skorpione und Zecken aus dem dritten Stock. Coleman ist Lübecker und gibt auf die Wasserkrebse acht, „Curator of Crustacea“. Und beide sind sie Preisträger. Für ihre Zusammenarbeit mit Schulklassen haben sie von der Robert-Bosch-Stiftung den zweiten Bundespreis für NaT-Working gewonnen, einem Projekt, das bundesweit Naturwissenschaftler und Schulen zusammenbringt.

Die Kuratoren haben dabei eine interessante Entdeckung gemacht: Wenn die Schulklassen zu ihnen kommen, dann staunen am meisten – die Lehrer. Die wundern sich nämlich, wie neugierig ihre Schüler sein können, wie sie Feuer fangen. Als eine Sonderschule da war, die ja oft als der Hort der Debilen und Uninteressierten abgetan wird, wollten die Schüler gar nicht mehr aufhören. „Es geht nur über Neugier“, erzählt der Krebsforscher Coleman, „Druck macht alles kaputt.“ (Siehe Kasten)

Und es gibt noch ein Geheimnis, das die beiden Forscher von ihren Gästen gelernt haben: „Was den Schülern schnell auf den Geist geht, ist, wenn wir zu viel quatschen. Die wollen lieber selber machen.“ Das Prinzip des neuen Lernens heißt: Die Kinder sind Subjekte ihres Lernens, ihre Fragen sind wichtig.

Das Exploratorium des Museums ist das Reich der Kinder. Eine Dreijährige gluckst vor Vergnügen, weil sie einen Plastikdinosaurier zusammenbauen kann. Linker und rechter Hand sind die archäologischen Nischen, in denen Kinder bei Geburtstagen selber Ausgrabungen vornehmen und Dinos basteln können. Dahinter Licht-Mikroskope, manchmal sogar mit Bildschirmen. Auf einem betrachtet ein Junge gerade einen Wasserfloh. „Sind Wasserflöhe schlau?“, fragt er.

Der Trick der beiden Kuratoren ist, jenseits aller Tierchen und Geräte, dass sie den Kindern so etwas wie eine Ahnung von Zukunft geben. Oben bei den Spinnen erfahren sie, dass ein Viertel der gesammelten Tiere noch gar nicht einsortiert und bestimmt ist. Obwohl manches schon 100 Jahre im Museum steht. Da rechnen die kleinen Maschinen der Jungs. Sie wissen, wenn sie sich anstrengen, sich beeilen, dann könnten sie es sein, die hier forschen. Und Oliver Coleman zeigt ihnen schon mal, wie man einen neuen Krebs zeichnet, dessen Einzelteile unter dem Mikroskop liegen. Und hinterher veröffentlicht. Für alle Fälle.

Was im Naturkundemuseum passiert, ist nicht der Normalfall. Wenige hundert Meter entfernt macht auch die Maus mit bei der Langen Nacht. Im ARD-Hauptstadtstudio in Sichtweite des Reichstages tritt der beste Erklärer aller Kinder auf. Alle sind gespannt, was die Maus nun wieder herausfindet.

Aber die Maus ist ein große Enttäuschung, eine Bühnenshow wird dargeboten. „Hat ein Dinosaurier 500 Zähne?“, will die Moderatorin wissen. Das ist altes Lernen. Hier stehen nicht die Fragen der Kinder im Zentrum, hier werden die Kinder zu Objekten. Wissen wird abgefragt, das mit den Kindern nichts zu tun hat. Aber um Wissenserweiterung, um Forschen und Lernen geht es ohnehin nicht. Die Moderatorin will zeigen, wie Show geht. Also hopst sie wieder eine Runde herum. Und preist den Kindern als großes Finale an, dass sie sich ein Autogramm geben lassen können. Von der Maus.

Keine Schwarze Witwe, leider. Kein Christoph weit und breit. Kein intelligentes Wieso, Weshalb, Warum. Die ARD-Leute bauen ganz auf Starkult. Auch das müssen Kinder wohl lernen – zu durchschauen.