Geschlossene Gesellschaft

Alle diskutieren über Kurt Becks CDU-Schelte, aber niemand über seine Thesen zur Chancengleichheit. Das ist bezeichnend für die schleichende Abschottung der deutschen Eliten von sozialen Aufsteigern

VON RALPH BOLLMANN

Alle wussten am Montag sofort, was sie von Kurt Beck zu halten haben. Drei Tage nach den Merkel-Festspielen in Heiligendamm – einer Art Juni-Bayreuth mit der Kanzlerin als Regisseurin, Dirigentin und Hauptdarstellerin in einer Person – hatte der SPD-Vorsitzende dem Koalitionspartner Neoliberalismus vorgeworfen, eine „Ideologie ohne Erdung“. Der Fall war klar: Damit die CDU in den Umfragen nicht vollends abhebt, wollte Beck die Kanzlerin mal eben aus Walhall herunterholen in die Niederungen der Innenpolitik. Zu platt, zu leicht durchschaubar, Operation missglückt.

Dass die Kommentatoren, die sich in den vergangenen Tagen zu Wort meldeten, allenfalls in Nebensätzen auf den Inhalt des Beck’schen Aufsatzes eingingen, bleibt trotzdem bezeichnend. Was der Parteivorsitzende über die deutsche Privilegiengesellschaft hatte aufschreiben lassen und über die enormen Schwierigkeiten, mit denen Aufstiegswillige in diesem Land mittlerweile konfrontiert sind – das war zwar nicht alles völlig neu, aber für einen Text aus dem Kosmos der Parteipolitik doch bemerkenswert. Das Schweigen über diese Inhalte sagt einiges über die Ignoranz, mit dem die mittlerweile wieder recht geschlossene Gesellschaft der deutschen Eliten dem Problem begegnet.

In der deutschen Tagespresse beschäftigte sich nur ein einziger Autor ernsthaft mit Becks Analyse – um über soziale Aufsteiger zu giften, die Distanz zu ihnen sei „eine Frage des Geschmacks“. Das ist eine Extremposition, gewiss. Aber in die Richtung denken mittlerweile viele aus dem gebildeten Milieu. Erstaunlicherweise hat der Regierungsumzug nach Berlin, der die Politik mit den sozialen Realitäten im Lande doch eigentlich vertraut machen sollte, diesen Effekt sogar verstärkt.

Die meisten der Zugezogenen igelten sich im Stadtteil Prenzlauer Berg ein – einer lupenreinen Monokultur des erfolgreichen akademischen Mittelstands ohne Migrationshintergrund, wie man sie selbst in den saturiertesten westdeutschen Provinzstädten selten findet. Dass man in der Berliner U-Bahn dann unvermeidlich jener Gesellschaftsschicht begegnete, die neuerdings als „Prekariat“ bezeichnet wird, hat das Abgrenzungsbedürfnis noch verstärkt.

So muss sich die deutsche Öffentlichkeit mittlerweile durch internationale Statistiken belehren lassen, wie weit sie auf dem Weg zu einer Klassengesellschaft wieder vorangeschritten ist. Ob es um die geringe Durchlässigkeit des deutschen Schulsystems geht, die skandalöse Abschiebung von Kindern in die Sackgasse der Haupt- oder gar Sonderschule, die Rückverwandlung der Hochschule in eine Bildungsanstalt für Akademikerkinder – das alles interessiert das neue deutsche Bürgertum immer weniger, solange es den eigenen Nachwuchs nicht betrifft. Wohlweislich wird zwar die Zusammenlegung aller möglichen Schulformen diskutiert, nirgends aber die komplette Abschaffung des Gymnasiums.

In der hysterisch geführten Demografiedebatte gilt offenkundig nicht die geringe Geburtenrate selbst als das eigentliche Problem, sondern die angeblich zu geringe Zeugungs- und Gebärwilligkeit der akademischen Mittelschicht. Dass sich gesellschaftliche Eliten vornehmlich auf biologischem Wege reproduzieren, scheint für all jene selbstverständlich, denen jeder Kinderwagen im Idyll rund um den Berliner Kollwitzplatz als Hoffnungszeichen gilt.

Auch die allgemeine Entrüstung über Hartz IV war weniger der Ausdruck sozialen Gewissens als vielmehr ein Produkt von Ignoranz und Abschottung. Die Lebensumstände von hunderttausenden Sozialhilfeempfängern waren all jenen offenbar entgangen, die sich nun plötzlich über menschenunwürdige Regelsätze beklagten. Die Entrüstung rührte vor allem daher, dass nun auch die Mittelschicht zu den potenziell Betroffenen gehörte. Aufschlussreich ist auch die Begeisterung über ein Grundeinkommen, das bei realistischer Betrachtung seiner wahrscheinlichen Höhe wohl eher auf eine Art Hartz V hinausliefe, diesmal unter Einschluss auch der Rentner.

Interessant wird die Debatte an dem Punkt, an dem die Lebenswelt ganz unvermittelt in die Welt der Saturierten einbricht. Der Postzusteller, der keuchend vor der Tür steht, zitternd das Paket überreicht und atemlos davonläuft, weil er sonst das Plansoll für seinen Minilohn nicht erreicht – das will man sich dann doch nicht anschauen. Muss man aber, selbst wenn man vor dem Anblick der ausgebeuteten Lidl-Verkäuferin lieber in den Bioladen flüchtet.

Das Beispiel des Zustellers kommt übrigens auch in dem Beck-Aufsatz vor. Das lässt Rückschlüsse auf die soziale Zusammensetzung der Schreibstube in der SPD-Zentrale zu.