: Egon Krenz geht nicht ans Telefon
WENDE Der Sicher- heitsapparat des SED-Regimes war hochgerüstet. Und doch löste sich die DDR auf, ohne dass ein Schuss fiel. Warum?
■ 3. April 1989: Die DDR-Führung hebt den Schießbefehl für die Grenze auf.
■ 7. Juli: Erich Honecker erkrankt. Nicht Egon Krenz vertritt ihn – nominell sein Stellvertreter –, sondern der Vertraute Günter Mittag.
■ 7. Oktober: Anlässlich der Feiern zum 40. Jahrestag der DDR ist Gorbatschow zu Besuch in Ostberlin. Tausende demonstrieren gegen Gewalt und für Pressefreiheit. Volkspolizei und Staatssicherheit reagieren mit Prügelorgien und Massenverhaftungen. Es wird der gewalttätigste Tag des Wendeherbstes.
■ 9. Oktober: 70.000 Teilnehmer kommen zur Montagsdemo in Leipzig. Erste „Wir sind das Volk“-Rufe. Die Staatsorgane halten sich zurück.
■ 18. Oktober: Krenz löst Honecker als Staats- und Parteichef ab.
■ 4. November: Rund 500.000 Menschen kommen auf den Berliner Alexanderplatz. Es ist die größte Protestkundgebung der DDR.
■ 9. November: Regierungssprecher Günter Schabowski verkündet auf einer Pressekonferenz, die neue Ausreiseregelung trete „unverzüglich“ in Kraft. Tausende eilen an die Grenze. Die Mauer fällt.
■ 6. Dezember: Krenz tritt als Staatsratsvorsitzender zurück.
VON STEFAN REINECKE
Egon Krenz gibt Autogramme, grüßt, umarmt. Es ist Ende September 2014, Berlin-Mitte. Der Exgeneralsekretär der SED, seit Langem Rentner, macht Werbung für seine Erinnerungen „Herbst 1989“, eine in realsozialistischem Bürokratendeutsch verfasste Rechtfertigungsschrift.
Man ist unter sich: frühere NVA-Offiziere und Ex-SED-Kader. Treffpunkt ist das Redaktionsgebäude der jungen Welt, des Blatts der DDR-Heimatvertriebenen. Chefredakteur Arnold Schölzel moderiert, ein Mann mit sanfter Stimme und feinem Deutsch. Er ist noch heute stolz darauf, vor 30 Jahren oppositionelle linksradikale Freunde in der DDR an die Stasi verraten zu haben. Was man im Rest der Republik für Erinnerungskultur hält, gilt Schölzel als „DDR-Bekämpfungsindustrie“.
Auch Klaus Höpcke ist da, in der DDR Vizekulturminister. Auf seiner Visitenkarte steht: „Wilhelm-Pieck-Straße (derzeit Torstraße)“. Es ist eine Zeitreise. Die Vergangenheit wird zur Gegenwart, die Gegenwart draußen, das von Schwaben bevölkerte Prenzlauer Berg, die Bundesrepublik 2014, die Torstraße in Berlin-Mitte – all das ist nur ein vorübergehender Irrtum.
Egon Krenz hat noch immer dieses Raubtierlächeln. Er ist 77 Jahre alt, wirkt aber wie früher, irgendwie unverwüstlich. Er arbeitet an seinem Bild in den Geschichtsbüchern. Krenz sieht sich als Reformer, der „von Gorbatschow angehaucht“ war und deshalb von Honecker im Sommer 1989 kaltgestellt wurde. Als den Mann, der dafür sorgte, dass es dann im Herbst kein Blutbad gab. Sogar die Frankfurter Allgemeine widmete ihm mal eine Eloge. Ist dieser mausgraue Mann die verkannte Figur des Herbstes, der deutsche Held des zivilen Rückzugs des Staatssozialismus?
Was Krenz auftischt, ist eine Mixtur aus historischen Fakten und Verdrehungen. „Es gab keinen Schießbefehl“, sagt er dem einverständig nickenden Publikum: eine kühne Geschichtsbegradigung. Anderes ist plausibler. So habe die SED-Führung keine „sowjetischen Truppen angefordert“, wie fälschlich unterstellt wurde. Im Gegenteil, er habe den großen Bruder freundlich gebeten, auf die üblichen Herbstmanöver bitte zu verzichten. Die Bürgerbewegung habe sowjetische Panzer missverstehen können. „Es ging um Deeskalation“, sagt Krenz.
Angst hatte er damals auch. Vor allem in der Nacht des 9. November, als die Mauer fiel. „Es hätte ja gereicht, wenn einer totgetrampelt worden wäre.“
Damit hat er recht.
Dass die Wende unblutig ablief, mutet noch immer wie ein Wunder an. Nirgendwo in Europa gab es 1989 so viele Bewaffnete auf so engem Raum wie in der DDR. 187.440 Mann trugen 1988 die Uniform der Nationalen Volksarmee (NVA). Beim Stasi-Wachregiment standen 10.180 Mann Gewehr bei Fuß, bei den Grenztruppen 39.600. Es gab fast 100.000 Volkspolizisten. Mehr als 200.000 Menschen waren in Betriebskampfgruppen organisiert, straff geführten paramilitärischen Einheiten, nach dem 17. Juni 1953 gegründet, um die Konterrevolution niederzuschlagen. Nicht zuletzt waren 365.000 Rotarmisten zwischen Zwickau und Rügen stationiert, die Westgruppe der Sowjetarmee.
„Ein Schuss, ein Tropfen Blut“, sagte Wolfgang Schäuble 1990, und es hätte keine Wiedervereinigung gegeben. Sondern vielleicht Bürgerkrieg, ein Militärregime, am Ende gar eine nach West und Ost abgeriegelte DDR. Nordkorea in Mitteleuropa.
Im SED-Politbüro gaben im Herbst 1989 Hardliner den Ton an, die die Welt nur in betonierten Freund-Feind-Klischees wahrnahmen. Die Opposition war, verglichen mit Polen oder Ungarn, schwach und flüchtig. Warum also blieben, anders als in Rumänien, die Kalaschnikows im Schrank? Warum ließ sich das hochgerüstete Regime fast ohne Blutvergießen abwickeln?
Wegen Egon Krenz?
Eine billige Kopie kommt an die Macht
Als Beispiel seiner Frieden stiftenden Tätigkeit berichtet Krenz vom 16. Oktober 1989. In Leipzig war für den Abend eine Montagsdemo angekündigt. Erich Honecker überlegte, ob es nicht an der Zeit wäre, morgens Panzer vorfahren zu lassen und den Protestlern das Besteck zu zeigen, mit dem sie verspeist werden könnten. Krenz und Vizeverteidigungsminister Fritz Streletz rieten ab. „Ich konnte“, so Krenz, „keinen Bürgerkrieg auf deutschem Boden verantworten.“ So möchte er gesehen werden – als der Mäßigende, der Chaos, Gewalt und Krieg verhinderte.
Ilko-Sascha Kowalczuk sieht das anders. Er sitzt in seinem Büro in der Stasi-Unterlagen-Behörde vor Aktenbergen. Strubbelige Haare, Jeans, ein ausgebleichtes schwarzes T-Shirt und ein farbiges Baumwollarmband ums Handgelenk. Es erinnert an das lässige Outfit der Oppositionellen, die während der Demonstrationen 1989 von der Stasi als Erste gejagt wurden. Kowalczuk ist Historiker. In der Studie „Endspiel“ hat er den Untergang der DDR beschrieben.
„Krenz“, sagt er, „war im Oktober dafür, die Grenze zur Tschechoslowakei dichtzumachen – obwohl er wusste, dass er damit einen Bürgerkrieg provozieren kann.“ Den Sturz Honeckers sieht der Historiker nicht als späten Sieg der Reformer über die Betonriege, sondern als klassische kommunistische Palastrevolution. Krenz wollte einfach „neuer Diktator werden“. Krenz, der exakt die gleiche Karriere wie Honecker gemacht hatte – FDJ-Vorsitzender, Sicherheitssekretär im ZK, Parteichef –, „war eine billige Kopie von Honecker, nur ohne den Bonus, von den Nazis inhaftiert worden zu sein“. Kowalczuk war im Herbst 1989 22 Jahre alt. In seinem Blick auf den letzten Machthaber der Mauer-DDR ist noch etwas von der heißen Verachtung des Unterdrückten für den Unterdrücker.
Es gibt ein Datum, das auf das strahlende Selbstbild von Egon Krenz im Herbst einen Schatten wirft: der 9. Oktober in Leipzig. Es war der Tag, an dem sich, mehr als beim Mauerfall, das Schicksal der Wende entschied. Die Stimmung war aufgeheizt. In der Lokalpresse erschien der Brief eines Kampfgruppenkommandeurs, der drohte, dass gegen die „konterrevolutionären Aktionen“ endgültig vorgegangen werde: „Wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand!“ Honecker hatte am 8. Oktober angeordnet: „Krawalle sind zu unterbinden.“ Wie brutal das ausfallen durfte, blieb offen.
Die Opposition fürchtete, dass das Politbüro zum Äußersten greifen könnte. Krenz hatte im Juni 1989 das Tian’anmen-Massaker in Peking als Sieg über antisozialistische Kräfte gelobt. Spätestens seitdem, so Jens Reich, Mitbegründer des Neuen Forums, rechnete die Bürgerbewegung damit, dass „es knallen kann“. Am 9. Oktober rückten in Leipzig rund 8.000 Polizisten, Kampfgruppenmitglieder und NVA-Soldaten mit Schlagstöcken an, um die Demonstration zu verhindern. Die Krankenhäuser hatten sich mit Blutkonserven eingedeckt. Stand die chinesische Lösung bevor?
Die Lage war gefährlich – auch einzelne Demonstranten hatten sich bewaffnet. Die, glaubt Kowalczuk, hätten zurückgefeuert, „wenn die Staatsmacht geschossen hätte“. Die Waffen hatten die Oppositionellen bei sowjetischen Soldaten gekauft.
Die Eskalation blieb aus, 70.000 Demonstranten zogen friedlich durch Leipzig. Aber nicht, weil Krenz den Genossen vor Ort Gewaltlosigkeit befohlen hätte. Der Leipziger SED-Chef Hackenberg versuchte vielmehr vergeblich, Krenz in Ostberlin ans Telefon zu bekommen, um Order zu erhalten. Bis er schließlich feststellte: „Nu sind se rum.“ Krenz meldete sich aus Berlin erst, als die Sache gelaufen war. Ein Fall von Gratismut. Ein Held des Rückzugs also?
Krenz war bis Mitte Oktober vor allem damit beschäftigt, Honecker zu stürzen. Dass er die Hardliner vom Schießen abhielt, ist Legende. Es gab im Herbst 1989 in der SED-Spitze keine organisierte Fraktion, die ein Tian’anmen in der DDR plante. „Vielleicht abends beim Schnaps, aber nicht im Politbüro“, sagt Ilko-Sascha Kowalczuk.
Und: Die Basisentscheidung, nicht zu schießen, fiel früher und noch unter Honeckers Führung. Am 3. April 1989 ordnete der SED-Chef an, es sei in der gegebenen politischen Situation besser, an der Grenze „einen Menschen abhauen zu lassen als Schusswaffen anzuwenden“. Das war das Ende des Schießbefehls. Freiwillig geschah das nicht.
Die DDR stand auf der KSZE-Folgekonferenz wegen der Mauer am Pranger – auch Polen und Ungarn wendeten sich gegen Ostberlin. Noch wichtiger: Der Kreditfluss aus dem Westen drohte zu versiegen, wenn es weiter Mauertote gäbe. Die DDR war beinah bankrott und hing am Tropf des Westens. Das war die Vorgeschichte für den Gewaltverzicht im Herbst 89. Ein später Erfolg der SPD-Ostpolitik.
Die Spitze des Regimes tat sich zwischen September und November schwer, überhaupt noch Entscheidungen zu fällen. Man lavierte und wartete. „Ein klares Ja oder Nein zu Gewalteinsätzen hätte das Karriereende bedeuten können. In der kommunistischen Fantasie und Erfahrungswelt war das noch immer assoziiert mit Parteiausschluss, Gefängnis und Schlimmerem“, so Kowalczuk. Im Zweifel tat man eben lieber nichts.
Was den Repressionsapparat ins Stocken brachte, war die Art des Protestes. Dass Zehntausende auf die Straße gingen, war im Weltbild der Parteikommunisten nicht vorgesehen. Dort gab es nur tapfere Werktätige, brave Bürger und ein paar vom Klassenfeind bezahlte Dissidenten. Als Tausende von Durchschnittsbürgern flohen und protestierten, zerfiel dieses Bild. Die SED-Führung wurde 1989 Opfer ihrer eigenen Propaganda.
Heinz Vietze ist 67 Jahre alt und gilt als Architekt der rot-roten Landesregierung in Potsdam. Er ist wohl der einzige höhere SED-Funktionär, der auch nach 1990 politisch Einfluss hatte. Vietze ist ein Phänomen. Vielen gilt er als listiger Strippenzieher, als finstere Verkörperung der Kontituität zwischen SED, PDS und Linkspartei. Die ihn kennen, klingen anders: Er sei loyal, bescheiden, lernfähig.
1989 war Vietze Erster Kreissekretär der SED in Potsdam, mit 42 einer der wenigen Jüngeren. Im August 1989 unterschrieb er jeden Morgen von halb sieben bis halb acht eigenhändig die neuen Parteiausweise der 23.000 Genossen im Kreis Potsdam. Das war teilweise vergebliche Mühe. Ab September, so Vietze, „kamen die Dokumente in Wäschekörben wieder zurück“. Die Basis begann still zu desertierten.
Dem SED-Bezirkschef laufen die Genossen weg
„Die Initialzündung“, so Vietze, „war die Fälschung der Kommunalwahlen im Mai. Da haben auch Genossen gesagt: So geht es nicht weiter.“ Als die Fluchtwelle anschwoll und Honecker verlautbarte, niemandem werde eine Träne nachgeweint, wuchs auch bei manchen in der SED das Gefühl, es reicht. Als die DDR im Oktober die Grenze zur CSSR dichtmachte, fragten viele den Kreissekretär: Was kommt als Nächstes? Kriegen wir auch keinen Besuch mehr?
Die Machtbasis des Regimes bröckelte. Auch in den Sicherheitsorganen kündigten manche die unbedingte Gefolgschaft auf. Als am 7. Oktober in Potsdam eine Demonstration des Neuen Forums mit Gewalt aufgelöst werden sollte, meldeten sich die Kampfgruppenkommandeure ab. Dafür stehe man nicht zur Verfügung. Die Polizei in Potsdam nahm am 7. Oktober 130 Oppositionelle fest. Danach hatte sie keine Lust mehr auf Randale. „Wir sperren die Route ab, aber wir lösen keine Demonstration mehr auf“ – so war, laut Vietze, die Stimmung in der Volkspolizei. Am 9. Oktober in Leipzig blieb fast die Hälfte der Kampfgruppenaktivisten, der regimetreuen Miliz, einfach zu Hause.
Holger Triebe, heute Techniker bei der Telekom in Dresden, war damals 19 Jahre alt und „eher unpolitisch“. Dass er 1989 regulär seinen Wehrdienst antrat, war für ihn selbstverständlich. Der Vater war NVA-Offizier. Triebe war in Stahnsdorf bei Berlin stationiert. Am 16. Oktober bekam die Truppe Schlagstöcke in die Hand gedrückt. Angeblich hatten „konterrevolutionäre Kräfte den Flughafen Schönefeld besetzt“. Doch am Nachmittag wurde der Einsatz wieder abgeblasen, erzählt er. Auch das war typisch für den Herbst – Alarmbereitschaft, die regelmäßig wiederaufgehoben wurde. Bei einem Einsatz, so Triebe, habe die Einheit sich verweigert. „Die Offiziere hätten es mit einer Meute Befehlsverweigerer zu tun bekommen“, sagt er.
So begannen sich auch im Sicherheitsapparat der SED – Armee, Kampfgruppen, Polizei – die eingefrästen Feindbilder aufzulösen. Das System implodierte von unten und in Zeitlupe. Auch das ist ein Schlüssel für die Gewaltlosigkeit der Revolution. Im Politbüro hatte man im Herbst zwar nur schattenhafte Vorstellungen von dem, was in der Republik los war. Doch dass man mit Schießbefehlen Meutereien riskiert hätte, dämmerte auch Krenz und Co.
So friedlich, wie es im milden Rückblick scheint, war der Herbst keineswegs. Jens Reich erinnert sich an den 7. Oktober in Berlin: Gorbatschow kam zum 40. Jahrestag der DDR. Die SED wollte dem großen Bruder eine stabile, saubere Republik präsentieren – und inszenierte daher eine Gewaltorgie gegen die Opposition. „Die Demonstranten wurden misshandelt, geprügelt, gefoltert, manche verschwanden tagelang“, so Reich. Schon am 21. September 1989, als das Neue Forum für verfassungsfeindlich erklärt wurde, hatte Reich mit dem Schlimmsten gerechnet. „Wir haben schriftlich geregelt, wo unsere Kinder bleiben sollten, und schicksalsergeben die Zahnbürste eingepackt“, sagt er. Doch die Stasi kam nicht.
Jens Reich erzählt von der Disziplin der Opposition
Reich sitzt in seinem Büro in Berlin-Buch. Er ist 75 Jahre alt, emeritierter Professor für Molekularbiologie. 1989 war er das bürgerliche, intellektuelle Gesicht der Opposition. Niemand kann den jähen Aufstieg der Bürgerbewegung und ihren abrupten Zusammenbruch nach der Maueröffnung präziser beschreiben. Reich wollte kein Politiker werden. Und auch kein Exbürgerrechtler, der vom Ruhm vergangener Tage lebt. Er ging wieder in sein Labor auf dem Campus im Berliner Norden.
Das Regime verlor viel von seinem Schrecken, als am 18. Oktober 1989 das Antlitz des neuen Generalsekretärs der SED auf den TV-Bildschirmen in der DDR auftauchte. Die Hälfte des DDR-Volks sah die Rede von Egon Krenz. Reich schaute sie gemeinsam mit 50 Oppositionellen an. Schon nach der Begrüßung – „liebe Genossinnen und Genossen“ – brach im Raum dröhnendes Gelächter aus. Krenz hatte sich an den Text gehalten, den er schon im ZK vorgetragen hatte – und mit vier Wörtern 15 Millionen DDR-Bürger, die nicht in der Partei waren, ausgeschlossen.
„Wir waren ja eine preußische Opposition“, sagt Reich. Diszipliniert auch beim Sturm der Stasi-Zentralen. Der war „in der Provinz immer ordnungsgemäß mit der Staatsanwaltschaft abgesprochen“. Bei den großen Demos sorgten Hunderte von Ordnern dafür, dass niemand ausflippte. Wahrscheinlich war die kirchlich inspirierte, disziplinierte Friedfertigkeit entscheidend, dass die Falken in der SED und fanatisierte Offiziere keinen Grund fanden loszuschlagen.
So legte die Bewegung den waffenstarrenden Staatsapparat mit Gewaltlosigkeit lahm. Das war die dialektische Pointe des Herbstes: Nur weil die Opposition die DDR nicht zerstören wollte, gelang es ihr.
Der Untergang der DDR war am Ende auch eine Groteske. Während der ZK-Sitzung am 9. November 1989 murmelte Krenz den Satz, der sein politisches Wirken präzise zusammenfasste: „Wie wir’s machen, machen wir’s verkehrt.“
Krenz war kein tragisch gescheiterter Reformer. Er war ein Apparatschik ohne Idee. Er entschied nichts und wartete. Nach sechs Wochen wurde er abgesetzt. Egon Krenz war fantasielos, überfordert, blass. Sein historisches Verdienst: Er stand der Beerdigung der DDR nicht im Weg.
Ein diesiger Novembertag in Berlin 2014. Draußen dämmert es schon. Jens Reich schaut in seinem Büro etwas skeptisch auf das Regal mit Büchern über 1989 und die Wendezeit. Das L’art pour l’art des Erinnerungsbetriebs behagt ihm nicht. Das Interessante, sagt Reich, sei doch, was „Bewegungen wie in Hongkong oder Kiew mit unseren Erfahrungen 1989 anfangen können“.
■ Stefan Reinecke, 55, ist taz-Parlamentskorrespondent
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