Sakrale Weihen zum Ende einer Ära

Bevor das Bremer Tanztheater in der „Compagnie Nordwest“ aufgeht, wagt Urs Dietrich einen großen Wurf: Rossinis „Petite Messe Solennelle“ als Choreografie. Er selbst wird durch den Umbruch am Bremer Theater vom Sparten-Chef zum festen Freien

Beim Hund scheiden sich die Geister: Ist es genial, dass Urs Dietrich eine arme, im Tierheim gefilmte Kreatur zum abschließenden „Agnus Dei“ auf der Großleinwand kläffen lässt? Oder hätte der langjährige Chef des Bremer Tanztheaters seine Videokamera besser im Schrank gelassen? Endlich kann man über Dietrich mal wieder diskutieren. Zum Ende seiner Amtszeit sucht er die große Form, will offensichtlich Zeichen setzen und nutzt, so viel zum Äußeren, erstmals seit zig Jahren die Hauptbühne am Goetheplatz.

Mit Gioacchino Rossinis „Petite Messe Solennelle“ setzt Dietrich ein Finale, das auch noch „Infini“ heißt und sich somit selbst in die Ewigkeit prinzipiellen Unfertigseins transzendiert. Er nimmt die größtmöglichen Produktionsmittel in die Hand, die Bremer Philharmoniker spielen, neben seinem Ensemble choreografiert Dietrich gleich noch den gesamten Opernchor. Messen werden selten vertanzt, Dietrich entscheidet sich zudem für einen speziellen Zugriff: Bis zum „Credo“ vertraut er auf sequentielle solistische Umsetzungen der gewaltigen Klangmassen, was die einzelnen TänzerInnen auf ein maximales – und somit leider konstantes – Energielevel festlegt. Erst mit dem „Cruxifixus“ beginnt das Ensemble als solches zu agieren. Allein zu sehen, wie Gilles Welinski all das musikalische Pathos mit seinem kleinen Körper chaplinesk pariert, lohnt jedwedes Warten.

Dietrich will den großen Wurf, und über weite Strecken fliegt „Infini“ tatsächlich dahin. Bis eine dieser Gewolltheiten kommt, wie die Einspielung von „Nato“ der Gruppe „Laibach“. Ein brutaler Alltags-Einbruch, schön und gut, aber welchen Mehrwert birgt der Lärm? Dietrich probiert, was alles geht, bis hin zu räumlichen Rückungen per Hebebühne. Es ist ein Abschied, der angesichts der sehr hohen, aber tendenziell homogenen Qualitäten des Ensembles sein Heil in neuen Dimensionen sucht.

„Infini“ ist die letzte Produktion des Bremer Tanztheaters in seiner bisherigen Gestalt. Der ab August amtierende Generalintendant Hans-Joachim Frey kooperiert mit dem Oldenburger Staatstheater, die Tanzsparten werden zur „Tanzcompagnie Nordwest“ vereint. Unter deren Dach wird Dietrich als „fester Freier“ – eleganter: „Choreographer in Residence“ – nur noch eine Produktion pro Spielzeit beisteuern.

Positiv formuliert: Die Handschriften werden vielfältiger. Als Oldenburger Pendant zu Dietrich ist der Hamburger Jan Pusch engagiert, wechselnde Gäste kommen hinzu. Ein klug verschachteltes Rotationsmodell sorgt für eine höhere Aufführungsfrequenz: Jede Compagnie produziert pro Spielzeit zwei Stücke alleine und eines gemeinsam, alle fünf werden in beiden Städten gezeigt – mehr als zuvor. Nach leichten Turbulenzen ist mittlerweile auch klar, dass von den zwölf Bremer TänzerInnen immerhin sieben übernommen werden, drei neue kommen hinzu. Die Chancen auf künstlerische Kontinuität trotz struktureller Veränderungen sind also gegeben. HENNING BLEYL

„Infini“ im Bremer Theater, musikalische Leitung: Thomas Eitler: 26. Juni, 3. und 12.Juli