Auferstehung eines Luxusliners

Am heutigen Samstag eröffnet in Kiel die Ausstellung „Titanic – Einladung zu einer Zeitreise“. In der neu konzipierten Ausstellung sollen sich die Besucher als Passagiere fühlen, die das Schiff von der Werft bis zum Untergang begleiten. Zahlreiche Details des Ozeanriesen wurden dafür nachgebaut

300 Ausstellungsstücke wurden ausgewählt und aus den USA nach Kiel gebracht – gut 50 mehr als bei der Vorgängerschau

VON ESTHER GEISSLINGER

Das hässliche Schrammen des Eises auf Stahl, das kalte Wasser, die Menschen, die vor den Fluten um ihr Leben flüchteten, die Herren in feinen Anzügen, die mit den Frauen aus dem Unterdeck ertranken: Am 15. April 1912 ging die Titanic, das größte und luxuriöseste Schiff seiner Zeit, im Atlantik unter, fast 1.500 Menschen kamen dabei ums Leben, nur 712 Passagiere und Mannschaftsmitglieder überlebten.

Bis heute fasziniert die Katastrophe. Filme und Bücher beschäftigen sich mit einzelnen Schicksalen, während die engere Fanszene diskutiert, wie der Kapitän das Unglück hätte verhindern können: frontal auf den Eisberg statt knapp vorbei? Malte Fiebing ist großzügig: „Vom warmen Sessel aus ist es leicht, darüber zu reden. Aber der Kapitän hatte nur einen Moment Zeit für seine Entscheidung, und er hat so reagiert, wie er es gelernt hatte: bremsen und gegensteuern.“ Fiebing steht unter der Glocke, mit der damals der Ausguck im Krähennest Alarm gab – drei Schläge für „Eisberg voraus“. Allein über diese Glocke könnte der 23-Jährige wahrscheinlich eine Stunde lang reden, ohne dass es langweilig würde. Fiebing ist seit zwei Jahren Vorsitzender des „Titanic Information Center Deutschland“, des deutschen Titanicvereins, und zurzeit lebt er im Fan-Himmel. Der liegt für jeden, der mit dem Titanic-Virus angesteckt ist, in Kiel: Am heutigen Samstag wird in der Ostseehalle die Ausstellung „Titanic – Einladung zu einer Zeitreise“ eröffnet. Bis zum 12. August wird sie zu sehen sein.

Der Student Malte Fiebing begleitet die Ausstellung als wissenschaftlicher Berater, er hat darüber verhandelt, welche der fast 6.000 Original-Titanic-Artefakte, die bisher geborgen wurden, in Kiel zu sehen sind: „Ich darf mich mit diesen Sachen beschäftigen und kriege auch noch Geld dafür.“

300 Stücke wurden ausgewählt und aus den USA nach Kiel gebracht, gut 50 mehr als bei der Vorgängerschau, die es 1997/98 in Hamburg gab. Allerdings werde der Besucher dieses Mehr wohl kaum bemerken, sagt Fiebing: „Nur wenn man jede einzelne Wäscheklammer zählt, kommt man auf die Summe.“

In der neu konzipierten Ausstellung geht es um anderes: Die Besucher sollen sich als Passagiere fühlen, die das Schiff von der Werft bis zum Untergang begleiten. Der Weg führt eine Gangway hinauf, durch Schlafräume der ersten Klasse und die engen Gänge im Auswandererdeck. Eines der Prunkstücke ist der Nachbau des zentralen Treppenhauses mit seiner zehn Meter hohen Kuppel, unter der ein Kronleuchter schwebt.

In Vitrinen stehen Stücke aus dem Besitz der Passagiere, Kleidung, Parfumfläschchen oder Brieftaschen, sowie Einrichtungsgegenstände: Besteck, Porzellan, Gläser. Das Geschirr der dritten Klasse hat sich besser gehalten als die feinen Teller und Tassen für die betuchten Passagiere: Mehr als 80 Jahre Seewasser haben das strahlende Blau abgewaschen, das die Reederei für ihr Prunkschiff ausgesucht hatte. In Wasser – wie noch bei der Ausstellung in Hamburg – liegt kein Stück mehr: Die Konservierung ist abgeschlossen.

Über einen Nachbau der Brücke geht es in einen weiten Raum: „Hier sind wir im Meer“, erklärt Malte Fiebing. Im Hintergrund ragt der Eisberg, den die Besucher auch berühren dürfen: Das Eis ist echt, es soll einen Eindruck von der Kälte jener Nacht vermitteln. Ausgestellt sind Teile von Rettungsbooten: Es gab zu wenige, und sie funktionierten nicht einmal richtig. „Niemand hatte sie je ausprobiert, und viele Halterungen klemmten“, weiß der Geschichtsstudent. Er selbst wurde bereits als Junge zum Titanic-Fan. So viel Wissen bedeutet auch, Mythen zu entzaubern: etwa den, der Kapitän habe die gefährliche Route durch das Eisberggebiet gewählt, um das Blaue Band für die schnellste Atlantiküberfahrt zu erhalten. „Das hat 1943 ein gewisser Joseph Goebbels erfunden“, sagt Fiebing. Der NS-Propagandist wollte damit Stimmung gegen die angeblich skrupellosen Briten erzeugen.

Es gebe vermutlich mehrere Gründe dafür, dass die Titanic bis heute so viele Menschen fasziniert, meint Fiebing: „Sie war ein Mikrokosmos ihrer Zeit.“ Millionäre und arme Leute saßen buchstäblich im gleichen Boot, aber sie wurden unterschiedlich behandelt, auch bei der Rettung: Statt „Frauen und Kinder zuerst“ hieß es „Vortritt für die erste Klasse“. Und: Die Titanic galt als sicherstes Schiff ihrer Zeit, als unsinkbar – dass eben jenes Traumschiff bei seiner Jungfernfahrt unterging, erschütterte den Glauben an die Unfehlbarkeit der Technik nachhaltig und entlarvte die Vorstellung, der Mensch beherrsche die Natur, als reine Irrlehre. Dabei, erklärt Fiebing, hätte nicht die Reederei den Mythos des unsinkbaren Schiffes in die Welt gesetzt: „Es war die Presse.“

Die Spaltung der Welt in Arm und Reich, die Sorge, dass die Technik im entscheidenden Moment versagt: durchaus moderne Themen, die im alten Wrack schlummern. Das findet keine Ruhe. Immer wieder starten Expeditionen zu den Trümmern, die 729 Kilometer vor der Küste Neufundlands in 3.800 Metern Tiefe liegen. Immer neuere Tauchgeräte und U-Boote sorgen dafür, dass Fachwelt und breite Masse Einblick in den Ort der Tragödie erhalten. Die Titanic, Grab von 1.500 Menschen, wird erkundet, vermessen, besichtigt, und von jedem Tauchgang bringen die Forscher neue Gegenstände mit, Tand und Reichtum, Triviales und Persönliches. Eine amerikanische Firma, die „RMS Titanic, Inc.“, hält die Bergungs- und Vermarktungsrechte an dem Wrack. Zwischen 1987 und 2004 gab es sieben Expeditionen in die Tiefe, als fachliche Partner sind das französische meereskundliche Institut und das Moskauer P.P.-Shirshov-Institut für Ozeanologie dabei. Die geborgenen Stücke reichen von einer goldenen Büroklammer bis zu einem 17 Tonnen schweren Teil der Außenhaut. Auch Frankreich hatte Interesse daran gehabt, sich Rechte an der Titanic zu sichern, doch ein US-Gericht entschied zu Gunsten der Bergungsfirma. Die bisher geborgenen Schätze sollen geschätzt 70 Millionen Dollar wert sein. Noch gut 50 Jahre könnten theoretisch Stücke geborgen werden – dann wird das Wrack vermutlich weitgehend zerfallen sein.

Die Kosten für Tauchgänge, Konservierung und wissenschaftliche Begleitung holt RMS Titanic, Inc. durch Ausstellungen wie jetzt in Kiel wieder herein. Auch die ist teuer: Der Transport in Spezialbehältern, Sicherheitsleute, die Versicherung. Entsprechend sind die Eintrittspreise: 22,15 Euro zahlt ein Erwachsener, Kinder von sechs bis zwölf Jahren 14,43 Euro. Dennoch hoffen die Organisatoren auf 150.000 bis 200.000 Besucher. „Das heißt, ganz Kiel müsste kommen“, sagt Fiebing. Aber gerade zur parallel mit der Ausstellung beginnenden Kieler Woche ist die Stadt traditionell voll, und wenn Regenwolken den Blick auf die Segelschiffe verschleiern, liegt die Titanic nahe. Insgesamt hat die Ausstellung acht Wochen Zeit, die nötigen Gästezahlen zu erreichen. Kostenlosen Eintritt haben übrigens Hinterbliebene der Passagiere – ein kleiner Trost dafür, dass sie keinen Anspruch auf Opas salzverklebte Koffer oder Omas Taschentücher erheben können. Zusätzlich zur Eintrittskarte spendiert die Firma Flug und Hotel.

Begleitet wird die Ausstellung von einem Vortragsprogramm, bei dem es unter anderem um Herausforderungen der Tiefseeforschung und einen Vergleich zwischen Titanic und Queen Mary 2 gehen wird. Wer es so wissenschaftlich nicht mag, kann im Souvenirshop stöbern: Zu kaufen gibt es fingernagelgroße Kohlebrocken frisch vom Wrack und jede Menge Gegenstände, die Titanic-Originalen nachgebaut sind. Einige davon stehen auch in Malte Fiebings Büro. Zur Eröffnung wird er Champagner trinken – in einem Kelch wie aus der ersten Klasse.