Fossile vor dem Aus

Im Jahr 2020 wird im Norden deutlich mehr Elektrizität produziert werden als benötigt. Zu diesem Schluss kommt eine bislang unveröffentlichte Expertise, die der taz vorliegt. Der geplante Bau fossiler Kraftwerke dürfte somit ökonomisch unsinnig sein

In Norddeutschland sind zurzeit sechs Atomkraftwerke am Netz, die nach dem Atomkonsens bis 2020 stillgelegt werden müssen: Brunsbüttel 2009, Unterweser 2012, Krümmel 2017, Grohnde 2018, Brokdorf 2019 und Emsland 2020. Sie erzeugen derzeit im Jahresdurchschnitt etwa 57.000 Gigawattstunden (GWh). Eine GWh entspricht einer Million Kilowattstunden (kWh). Nach aktuellen Planungen sollen bis 2015 im Norden 19 neue Kraftwerke mit fossiler Energie gebaut werden mit einer Leistung von etwa 48.000 GWh. Je sieben werden mit Gas- und Steinkohle betrieben, je zwei mit Biomasse und Müll sowie eines mit Braunkohle. Die größten von ihnen sind fünf Steinkohlekraftwerke: drei mit je 800 Megawatt (MW) will das belgische Unternehmen Electrabel 2011 in Brunsbüttel, Stade und Wilhelmshaven in Betrieb nehmen, genauso groß ist das von der SWB in Bremen geplante Werk. Mit 1.640 MW sogar doppelt so leistungsfähig soll ein Vattenfall-Kraftwerk in Hamburg-Moorburg werden.  SMV

VON SVEN-MICHAEL VEIT

Auch bei einem vollständigen Atomausstieg wird in Norddeutschland das Licht nicht ausgehen. Im Gegenteil werden die fünf Küstenländer in wenigen Jahren von elektrischer Energie geradezu erleuchtet. Wenn alle geplanten neuen fossilen und regenerativen Kraftwerke tatsächlich gebaut würden, werde die Region im Jahr 2020 eine gigantische Überproduktion von 128 Prozent aufweisen. Das heißt, es wird rund 2,3 Mal so viel Strom erzeugt wie verbraucht. Das ist das Ergebnis einer noch unveröffentlichten Studie der Hamburger Arrhenius Consult GmbH und des Bremer Energie Instituts für den Zukunftsrat Hamburg, die der taz nord vorliegt.

Deshalb stelle sich nachdrücklich die Frage, heißt es in den Handlungsempfehlungen der 88-seitigen Expertise, „ob alle geplanten Kraftwerkskapazitäten wirklich realisiert werden oder ob es zu einem verringerten Ausbau der fossilen Kapazitäten kommt“. In Norddeutschland wird eine Reihe von Kraftwerken gebaut oder geplant, die alte Anlagen oder die bis 2020 stillzulegenden sechs Atomreaktoren ersetzen sollen (siehe Kasten).

Sollten diese in der Mehrzahl mit Kohle oder Erdgas zu betreibenden Kraftwerke tatsächlich errichtet werden, gehe das zu Lasten der erneuerbaren Energien wie Wind und Wasser sowie der Kraft-Wärme-Koppelung. Durch ein zu knappes Stromangebot jedenfalls werde ihr Ausbau „nicht am Markt vorangebracht“, schreiben die vier AutorInnen der Expertise. Für sauberen Strom aus regenerativen Quellen seien dann „vielmehr besondere, politisch flankierte Anstrengungen erforderlich“.

Von aktueller politischer Brisanz ist diese Studie für die Genehmigung von fünf großen Steinkohlekraftwerken in Schleswig-Holstein und Niedersachsen sowie vor allem in Hamburg und Bremen. Solche Kraftwerksfossile gelten wegen ihrer extrem hohen Kohlendioxid-Emissionen als Klima-Killer ersten Ranges. Zudem weisen sie einen miserablen Wirkungsgrad von zumeist unter 50 Prozent auf: Das heißt weniger als die Hälfte der eingesetzten fossilen Energie wird in Elektrizität umgewandelt, der Rest der Kohle verraucht durch die Kraftswerksschornsteine.

Das in Hamburg-Moorburg geplante Mega-Kraftwerk des Strommonopolisten Vattenfall gilt Umweltschützern denn auch als CO2-Schleuder. Der Ausstoß von bis zu sieben Millionen Tonnen CO2 pro Jahr entspricht etwa 40 Prozent der jetzigen gesamten Emissionen im Stadtstaat.

In Bremen ist der Bau eines neuen Steinkohlekraftwerks zurzeit ein noch ungeklärter Punkt in den andauernden rot-grünen Koalitionsverhandlungen. Die privatisierten einstigen Stadtwerke SWB wollen eine 800-Megawatt-Anlage errichten, was den Grünen an der Weser ganz und gar nicht behagt. Doch auch SPD-Bürgermeister Jens Böhrnsen sieht bei einem Bau „eine dramatische Verschlechterung der CO2-Bilanz“.

Noch liegt kein offizieller Antrag der SWB vor. Deshalb wird in einem demnächst zu verabschiedenden rot-grünen Koalitionsvertrag wohl weder ein klares „Ja“ oder „Nein“ zum Vorhaben stehen. Der Ausweg könnte ein Kriterienkatalog sein, nach dem ein möglicher Bauantrag irgendwann von Regierung und Verwaltung zu bewerten sei – und damit eine Vertagung des Problems.

Die Expertise für den Zukunftsrat jedoch, die Norddeutschlands Energieversorgung ausdrücklich unter ökonomischen Aspekten untersucht hat, bezweifelt selbst den betriebswirtschaftlichen Sinn solcher Kraftwerke. Wegen der Überkapazitäten könne es „zu schlechteren Betriebsbedingungen und damit zu einer anderen Einschätzung der Wirtschaftlichkeit einer Anlage kommen“, heißt es in dem Gutachten. Mit anderen Worten: Fossile Kraftwerke rechnen sich nicht.

Auch dies sei eine direkte Folge der aktuellen Klimaschutzdebatte. Die Stromnachfrage werde bis 2020 „konstant“ bleiben oder bei Umsetzung der bereits existierenden EU-Einsparungsrichtlinien um etwa 13 Prozent sinken. Weitere Maßnahmen für Energieeffizienz und -einsparung würden den Bedarf weiter reduzieren. Zugleich würden auf der Basis jetziger Planungen die erneuerbaren Energien dann mit 68.000 Gigawattstunden im Jahr einen Anteil von 49 Prozent an der Stromerzeugung haben – und die werde 2020 bereits mehr als doppelt so hoch wie der Verbrauch sein.

Allein die Windkraft werde nach Installierung der geplanten Offshore-Windparks zwei Drittel des gesamten Stromverbrauchs in Norddeutschland decken können: Mit rund 59.000 Gigawattstunden im Jahr werde dann mehr Windstrom erzeugt als heute Atomstrom.

Eine Lösung könnte, so die Studie, der Export überschüssigen Stromes nach Süddeutschland sein. Dafür aber müssten die Höchstspannungsnetze mit milliardenschweren Investitionen ausgebaut werden. Billiger und gesünder jedoch wäre es, überflüssige Klimakiller gar nicht erst zu bauen.