Eingriffe ins Leben

Für den Gynäkologen Ansgar Pett sind Abtreibungen Berufsalltag. Jede Frau, die zu ihm kommt, hat ihre eigene Geschichte: Vergewaltigung, wirtschaftliche Not, Ablehnung durch den Freund. Jede vierte Schwangerschaft in Berlin wird abgebrochen

Emine Demirel wird von ihrem Mann verfolgt. Irgendwann öffnete ihr Sohn ihm die Tür. An diesem Tag wurde sie wieder schwanger

VON ANTJE LANG-LENDORFF

Emine Demirel* kommt zu spät zu ihrem Abtreibungstermin. Fünf Minuten vergehen, zehn, eine Viertelstunde. Die Meditationsmusik im Wartezimmer läuft in der Endlosschleife. Aus den Behandlungsräumen hört man leise Pieptöne. Endlich klingelt es, Emine Demirel hetzt herein, mit knall-orangefarbenem Kopftuch, auf hochhackigen Schuhen. „Frau Demirel, wir hatten doch halb zehn vereinbart“, sagt der Gynäkologe Ansgar Pett. „Tut mir leid, die Kinder haben Ferien. Ich musste sie zu meiner Mutter bringen.“ Sie ist noch ganz außer Atem. „Und ich musste noch zur Bank.“ 330 Euro kostet die Abtreibung. Sie blättert die Scheine auf den Tresen der Rezeption.

Emine Demirel hat auch vergessen, den Narkosezettel auszufüllen. Es ist einfach alles zu viel für sie in letzter Zeit. Sie setzt sich auf eine Stuhlkante, die Hand mit dem Kugelschreiber fliegt über das Blatt. Haben Sie folgende Erkrankungen? „Nein, nein, nein“, kreuzt Emine Demirel an. „So geht’s am schnellsten“, sagt sie und lacht verlegen. Sie kennt das schon, es ist ihre fünfte Abtreibung. „Ich habe immer gedacht, schlimmer kann mein Leben nicht mehr werden. Von wegen“, sagt sie und lacht wieder. Die Schwester ruft, Demirel muss in den Operationssaal.

Berlin ist die Hauptstadt der Abtreibungen. Hier wird jede vierte Schwangerschaft abgebrochen, eine höhere Quote als in allen anderen Bundesländern. Im vergangenen Jahr gab es 10.024 gemeldete Abtreibungen, in den Jahren zuvor noch mehr. Rechnet man die Abbrüche der vergangenen zehn Jahre zusammen, kommt man auf mehr als 124.000. Eine beeindruckende Zahl. Hätten all diese Frauen ein Kind gewollt, Berlin wäre jetzt um einen Stadtteil größer.

Ansgar Pett betreibt eine ganz normale gynäkologische Praxis in Kreuzberg. Wenn er operieren muss, geht er in die benachbarte Tagesklinik. Im Wechsel mit anderen Frauenärzten führt er hier Gewebeentnahmen, Bauchspiegelungen und Sterilisationen durch. Und Abtreibungen. Was sind das für Frauen, die zu ihm kommen? „Das geht quer durch alle Gesellschaftsschichten“, sagt Pett. Viele hätten finanzielle Probleme, bei manchen wolle der Partner kein Kind.

Das durchschnittliche Alter der Frauen, die in Deutschland abtreiben, ist laut Statistik deutlich gesunken. Der Anteil der 18-bis 25-Jährigen hat zugenommen. Genau wie der Anteil derer, die ledig sind und noch keine Kinder haben. Pett bestätigt das: „Auch schwangere Teenager erlebe ich immer wieder.“ Der Arzt hat eine tiefe, ruhige Stimme. Man kann sich vorstellen, dass die Patientinnen zu ihm Vertrauen fassen. Er ist interessiert, aber nicht aufdringlich.

Natürlich spricht er mit den Frauen darüber, warum sie abtreiben wollen. Aber wenn sie zu ihm kommen, haben die meisten das gesetzlich vorgeschriebene Gespräch bei einer Beratungsstelle bereits geführt und ihre Entscheidung getroffen. Petts Aufgabe ist es, das Problem zu beseitigen. Er saugt die ein bis drei Zentimeter großen Embryos ab.

Die Abtreibungen gehören für Ansgar Pett zum Berufsalltag. Nicht, dass ihm das immer leicht fiele. Der 55-Jährige ist Sohn eines Pastors und bis heute Mitglied der Kirche. „Schwangerschaftsabbrüche sind eine der Schattenseiten meines Berufs“, sagt er. Aber vielleicht macht er diesen Job auch gerade wegen des christlichen Hintergrunds. Aus Nächstenliebe. „Ich sehe doch die Not der Frauen“, sagt er. Sie wegschicken? Er schüttelt angewidert den Kopf. Nein, das wäre nicht fair. Pett ist Idealist. Er gibt seinen Patientinnen auch seine Handy- und seine Privatnummer. Er will für sie da sein, vorbehaltlos.

Allerdings hat auch Doktor Petts Verständnis Grenzen. Wenn Frauen zu ihm kommen, die eine Abtreibung so selbstverständlich nutzen wie die Pille danach, macht ihn das wütend. „In Ostblock-Ländern waren Schwangerschaftsabbrüche häufig eine Verhütungsmethode. Das merkt man manchmal heute noch“, sagt er. Zum Glück sei das die Ausnahme. „Für die überwiegende Mehrheit ist die Entscheidung gegen ein Kind mit einem Konflikt verbunden.“ Gerade deshalb fragt Pett sich immer wieder, warum die Frauen nicht besser verhüten. „Mit dem IQ hat das nichts zu tun. Die Intelligenteren tun sich hinterher nur schwerer, zu ihrem Fehler zu stehen.“

Jede Frau, die abtreibt, hat ihre eigene Geschichte, ihre eigenen Ängste. Die hohe Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen macht sich aber offenbar auch in diesem Bereich bemerkbar. Laut Senatsverwaltung für Gesundheit begründet fast jede Zweite den Wunsch, die Schwangerschaft abzubrechen, mit ihrer wirtschaftlichen Situation. Viele junge Frauen sorgten sich auch um Ausbildungs- und Arbeitsplatz, heißt es. Vor allem deutsche Frauen sähen hier „für sich mit Kind keine Perspektiven“.

Zum Beispiel Katharina Winkler*. Sie ist 24, studiert und will Drehbuchautorin werden. Ihr Lebenstraum. Sie hat sich an einer renommierten Filmhochschule beworben und ist bei den Auswahlgesprächen in die letzte Runde gekommen, als sie merkt, dass sie schwanger ist. Sie und ihr Freund haben nicht verhütet. Katharina Winkler sagt, sie wisse schon, wann sie ihre fruchtbaren Tage habe. Diesmal müsse sie sich verzählt haben. „Eigentlich habe ich immer gedacht, wenn ich schwanger werde, dann soll es so sein“, sagt sie. Aber ihr Freund, ein Schauspieler ohne Festanstellung, will das Kind nicht. Was soll sie tun?

Katharina Winkler spricht mit Freunden, mit ihren Eltern. Und entscheidet sich für eine Abtreibung. Zu sehr würde ein Kind ihre Pläne durchkreuzen. Gut geht es ihr damit nicht. Hat sie wirklich ein Recht darauf? Nur weil das Kind ungelegen käme? Wird sie nach dem Eingriff noch in den Spiegel schauen können?

Sie erfährt, dass die Schule sie nicht genommen hat. Und bleibt bei der Entscheidung. Vier Stunden vor der Operation soll sie ein Medikament nehmen, das den Muttermund öffnet. Katharina Winkler führt es ein – und will kurz darauf ins Krankenhaus fahren, damit die Ärzte das Mittel wieder herausholen. So unentschlossen ist sie. Mit verheulten Augen kommt sie bei Doktor Pett in der Tagesklinik an. Als sie nach der Abtreibung aufwacht, macht sich eine große Traurigkeit in ihr breit.

Eine Woche später sitzt Katharina Winkler im Café und erzählt ihre Geschichte. „Ich hab es eigentlich gern verrückt“, sagt sie. „Aber ich alleine mit einem Baby, das wäre schon sehr stressig. Das wollte ich auch dem Kind nicht antun.“ Sie ist zierlich, hat blonde, kurze Haare und empfindsame Augen. Sie sagt, sie hadere nicht mit sich, die Entscheidung sei richtig gewesen. Im gleichen Atemzug fügt sie hinzu, sie habe immer gedacht, dass sie das Leben nehmen werde, wie es kommt. „Meine Mutter hat auch jung Kinder gekriegt. Man schafft das schon irgendwie.“

Die Abtreibung hat ihr Selbstbild ganz schön durcheinander geworfen. Seit dem Abbruch streitet sie ständig mit ihrem Freund. „Er hat sich mit der ganzen Sache gar nicht auseinander gesetzt“, sagt sie und legt eine Hand halb vors Gesicht. „Der hat die Augen zugemacht und gefragt: Ist es jetzt vorbei? Kann ich jetzt wieder gucken?“ Alle Menschen, die ihr nahe stehen, wissen von der Operation. Trotzdem will sie nicht, dass man ihren Namen in der Zeitung liest. Ob sie sich schämt? „Vielleicht ein bisschen. Jedenfalls habe ich versucht, aus der Klinik zu verschwinden, ohne gesehen zu werden.“

Ist Abtreibung immer noch ein Tabu? Über drei Jahrzehnte sind vergangen, seit sich Frauen mit dem Bekenntnis „Ich habe abgetrieben“ auf der Titelseite des Stern für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen einsetzten. Noch immer ist eine Abtreibung grundsätzlich rechtswidrig, nur eben mit Ausnahmen: Innerhalb der ersten zwölf Wochen ist der Eingriff allen Frauen erlaubt. Viele nutzen diese Möglichkeit. Und reden trotzdem nur ungern darüber.

In Emine Demirels Familie weiß niemand, dass sie schwanger ist und abtreiben will. Ihrer Mutter hat sie gesagt, sie müsse zum Amt, „Papierkram erledigen“. Emine Demirel hat große Angst davor, entdeckt zu werden. Deshalb hat sie vorgeschlagen, das Interview gleich nach der Operation im Aufwachraum zu führen. Die Tagesklinik befindet sich weit weg von ihrem Zuhause im Wedding. Hier kennt sie niemand. Hier kann sie offen reden.

Die meisten Frauen haben die vorgeschriebene Beratung schon hinter sich. Petts Aufgabe ist es, das Problem zu beseitigen

Zwanzig Minuten nachdem Demirel das Wartezimmer verlassen hat, ist die Abtreibung vorbei und sie aus der Narkose erwacht. Blass liegt sie im weißen Laken. Das Kopftuch hat sie abgenommen. Sie ist Anfang 30, man sieht erste graue Strähnen im schwarzen Haar. Sie hat ein freundliches, offenes Gesicht. „Angefangen hat alles damit, dass ich in die Ehe mit meinem Cousin eingewilligt habe. Dabei habe ich ihn immer gehasst.“

Emine Demirel ist die Tochter eines türkischen Einwanderers und in Deutschland aufgewachsen. Sie spricht mit einem melodiösen Singsang. Obwohl sie schlimme Dinge erzählt, wirkt sie nicht verbittert, eher besorgt. „Er hat mich geschlagen. Und vergewaltigt, immer wieder. Lange habe ich still gehalten. Bis er auch die Kinder mit reingezogen hat. Da habe ich ihn aus der Wohnung geschmissen.“ Ein großer Schritt für eine Frau wie sie. Ohne Arbeit, mit zwei Kindern im Grundschulalter. Ihre Eltern hätten weggeschaut. „Aber jetzt unterstützen sie mich zum Glück“, sagt Demirel.

Die Eltern nähmen sie auch in Schutz vor dem Teil der Großfamilie, der zu ihrem Mann hält. Trotzdem verfolge sie ihr Mann und drohe, sie umzubringen, erzählt Emine Demirel. Sie sei schon mehrmals bei der Polizei gewesen, aber das habe nichts gebracht. „Ich dachte, Frauenrechte sind in Deutschland wichtig. Aber mich hat man völlig alleine gelassen.“ Als der Mann vor einigen Wochen klingelte, habe der Sohn die Tür aufgemacht. An diesem Tag sei sie wieder schwanger geworden.

Mit einem blauen Auge kam sie zu Doktor Pett. Zum fünften Mal. Wieso sie nicht verhütet? „Ich denke doch immer, ich habe nichts mehr mit meinem Mann zu tun“, sagt sie. Noch ein Kind von ihm, das kann sie sich nicht vorstellen. Immerhin hat sie sich jetzt für eine Spirale entschieden. Zur Sicherheit. An ihrem Zeigefinger hängt ein Pulsmesser. „Piep, piep, piep“, macht das Gerät. Jeder Ton ist ein Herzschlag, jeder Herzschlag Leben. Ein eigenartiges Geräusch, an diesem Ort. Emine Demirel hört nicht darauf. Sie gestikuliert so stark, dass ihr der Pulsmesser vom Finger fällt.

Nach allen Abtreibungen sei sie erleichtert gewesen. Und gleichzeitig sehr traurig. „Jedes Mal stirbt ein Teil von mir“, sagt sie. Aber man müsse einem Kind ja auch etwas bieten. Eine gute Ausbildung, eine glückliche Familie. Das könne sie nicht. „Schon meine Tochter wollte ich eigentlich abtreiben. Wenn ich mir das heute vorstelle“, sie macht eine Pause. „Meine Tochter ist mein Ein und Alles.“

Emine Demirel versucht, so wenig wie möglich über die ganze Sache nachzudenken. Sie hat andere Sorgen. Wenn im Fernsehen das Thema Abtreibung auftaucht, schaltet sie um. Eigentlich verbiete auch ihr muslimischer Glaube einen solchen Eingriff, sagt sie. „Ich tue ja, was ich kann. Eine Sünde mehr oder weniger ist dann auch egal.“ Die Schwester zieht den Vorhang vor dem Bett zur Seite. Wie es ihr gehe? „Ich fühl mich gut. Nicht mehr schwanger jedenfalls“, sagt sie und lacht ihr mädchenhaftes, verlegenes Lachen. Ein Taxi wird sie zwei Stunden später nach Hause bringen. Sie wird wieder in ihre Welt verschwinden. Wo alle denken, sie sei beim Amt gewesen. Papierkram erledigen.

* Name geändert