DER VEREINTE DEUTSCHE MAG KEINE BRÜCHE. DER VEREINTE DEUTSCHE MAG HELENE FISCHER
: Die Größte

Foto: Lou Probsthayn

KATRIN SEDDIG

Am Samstag vor fünfundzwanzig Jahren fiel also die Mauer. Ich war neunzehn Jahre alt, alt genug, um wenigstens eine gewisse Ahnung von dem zu haben, was in der DDR, meinem Heimatland, so vor sich ging.

Ich war die ersten Male angeeckt, hatte Ungerechtigkeiten mitbekommen, Ohnmacht empfunden, und war enttäuscht worden, denn ich hatte in gewisser Weise an dieses Land geglaubt, solange ich ein Kind gewesen war. Da sang ich stolz die Pionierlieder. Da wollte ich mich einbringen und ein guter Mensch werden, der anderen Menschen hilft und stets das Richtige zu tun bemüht ist. So wie es im Pionierausweis stand.

Als die Mauer sich öffnete, war ich nicht traurig, aber auch nicht euphorisch. Ich wusste nicht, was auf mich, auf uns, zukommt. Ich erwartete, erstaunlicherweise, ungefähr genau das, was dann kam. Jetzt haben wir ein Land, in dem die Grenzen einerseits sich lange aufgelöst haben und andererseits noch hartnäckig weiterbestehen. Man betrachte Aspekte wie Einkommen und Arbeitslosigkeit, Rollenverteilung in der Familie und Kindererziehung.

Was beide Seiten eint, ist zum Beispiel die Begeisterung für Helene Fischer, die, ebenfalls am Samstag, in der „Hamburger Arena“ ihre Show „Farbenspiel“ darbot. Meine Eltern sind große Helene-Fischer-Fans. Es fällt mir schwer, etwas gegen sie vorzubringen, gegenüber meinen Eltern. Sie sagen Sachen wie: „die Größte, die wir hier haben“, „Multitalent“, „kann alles“, „ist immer perfekt“.

Ich sage: „Ja, schon. Aber was sind das denn für Kriterien?“ In ihrer Show „Farbenspiel“, ging es um eine Reise durch die Jahreszeiten, denen sie diverse Outfits widmete. Für Freunde des Frühlings, des Sommers, des Herbstes und des Winters also, für jeden was dabei. In den Pausen Vivaldi.

Das kann man nur gut finden. Das ist so umfassend und alles einbeziehend, das muss irgendwo immer an ein Gefühl rühren. Ein Wintergefühl, ein Sommergefühl. Alles, was es gibt, eigentlich. Auch in künstlerischer Hinsicht. Tanz, Gesang, Moderation, Helene Fischer kann alles und alles besser als alle anderen. Zu allem Überfluss sieht sie auch noch besser aus, als alle anderen. Sie ist blond und hat eine perfekte Figur. Sie lässt sich nicht in die Schlagerecke drängen, sondern orientiert sich eher am Stil großer Showgrößen, wie Madonna, sie erlaubt es sich sogar, sexy auszusehen.

Was hat das mit der Mauer und den Deutschen im Allgemeinen zu tun? Helene Fischer, die in Sibirien geboren ist, verkörpert wie kaum jemand die Sehnsucht der Deutschen nach dem Glatten, Perfekten, Makellosen. Die Sehnsucht ist so groß, dass der Deutsche dafür auf Substanz verzichtet. Nichts fürchtet er so, wie Brüche. In Helenes Show geht es um nichts als nur um die Show, um die glanzvolle Verpackung, eine Kiste in der Kiste, in der Kiste, am Ende ist da nichts, hat doch Spaß gemacht, gute Unterhaltung, wir sind beruhigt.

Alles ist gut, wenn Helene singt. Frühling, Sommer, Herbst und Winter. „Alles was ich will, ist da, große Freiheit, pur, ganz nah.“ („Atemlos durch die Nacht“) So hat sich der Ostdeutsche das 1989 vorgestellt, so stellt er es sich immer noch vor, aber bescheidener, zum Beispiel als One-Night-Stand mit irgendwem, was „tausend Glücksgefühle“ hervorrufen soll.

Der erwachsene Mensch weiß, dass sowas Blödsinn ist, aber man darf doch wohl noch träumen. So träumt der vereinte Deutsche mit Helene Fischer, während er gleichzeitig Hass auf alles entwickelt, was seinen Traum stört. Salafisten zum Beispiel. Über die der Durchschnittsdeutsche zwar fast gar nichts weiß, aber wenn irgendwer, der mehr Mumm hat, Hooligans zum Beispiel, gegen die vorgeht, dann freut das den vereinten Deutschen insgeheim. „Alles was ich bin, teil ich mit dir / Wir sind unzertrennlich, irgendwie unsterblich / Komm, nimm meine Hand, und geh mit mir.“ Katrin Seddig ist Schriftstellerin und lebt in Hamburg, ihr jüngstes Buch, „Eheroman“, erschien 2012 bei Rowohlt. Ihr Interesse gilt dem Fremden im Eigenen.