GESCHICHTE ZUM ANMACHEN
: Die Kautschukmauer

Erst geschaut, dann geklaut, das haben auch meine Nachbarn

Das war ja ein ganz schönes Spektakel mit der Lichtergrenze zum Mauerfalljubiläum. Weniger schön war, dass bereits in der Nacht zuvor Dutzende der etwa 7.000 Lichtstelen mit heliumgefüllten Kautschukballons gestohlen wurden, als wollten sich die Menschen schon vor dem Jubiläum einen auf die Lampe gießen. Ich fand es total daneben, Teile des Spektakels vor dem Spektakel zu klauen. Am nächsten Tag wurden die verschwundenen Stelen ganz flott ersetzt und die ehemalige Mauerstadt Berlin konnte es dem sozialistischen Schutzwall so richtig heimleuchten.

Ich weiß nicht mehr, wie viele unschuldig weiße Ballons ich in den dunklen Himmel fliegen sah, es waren viele. Es gab immer mal Ständer, in denen die Ballons drinblieben. Aber das fand ich nicht schlimm. Schließlich ist die Mauer auch nicht im Dominoeffekt gefallen, sondern eher gebröckelt. Kaum waren die Ballons davongeflogen, verschwanden ratzfatz Hunderte der mehr als drei Meter hohen Lichtstelen. „Was würden Sie mit einer solchen Lampe machen?“, fragte die piefige B.Z. „Sind das die Mauerspechte von 2014?“, wollte Bild wissen. „Erst geschaut, dann geklaut“, unkte die Berliner Zeitung. Erst geschaut, und dann geklaut haben auch meine Nachbarn. Die Mutter war mit ihrem 13-jährigen Sohn in der Stadt unterwegs gewesen und hatte eine Stele mitgenommen, die sie auf dem Fahrrad nach Hause transportierte. Das hätte ich der Fränkin niemals zugetraut, niemals. Stolz zeigte mir ihr Sohn das hohe und gar nicht mal schwere Zeugnis der Geschichte aus Kunststoff und Carbon. Immer wieder brachte er es im Treppenflur zum Leuchten, indem er den Schalter unter dem Lampenfuß drückte. „Das ist Geschichte zum Anfassen!“, gratulierte ich dem jungen Mann zu dem geschichtsträchtigen Diebstahl. „Nee, zum Anmachen!“, erwiderte er und freute sich an dem Licht. BARBARA BOLLWAHN