Zweifel an Polizeizeugen

KÖRPERVERLETZUNG Wende im Prozess um Schlägerei von Hamburg-Neuwiedenthal: Gericht hebt Haftbefehl gegen den Angeklagten auf. Polizist verstrickte sich in Widersprüche

Verteidiger zufrieden. Auch Nebenkläger räumt schlüssige Beweisführung ein

VON KAI VON APPEN

Es begann mit dem harmlosen Einsatz am Abend des 26. Juni 2010 gegen einen „Wildpinkler“ am Bahnhof von Hamburg-Neuwiedenthal: Der eskalierte, als der Polizeibeamte Günter J. mit dem Teleskopstab auf den betrunkenen und renitenten Mateusz W. einschlug. Es folgte eine Massenschlägerei zwischen rund 20 Polizisten und mindestens 40 Anwohnern, in deren Verlauf Günter J., als er Kollegen bei der Festnahme von Ahmed S. unterstützte, schwere Schädelbrüche erlitt. Dieser Vorfall war Auslöser einer Medienkampagne über Gewalt gegen die Polizei. Denn bei den Tumulten waren fünf Polizisten verletzt worden.

Es folgte der Prozess gegen Ahmeds Bruder Amor S. – wegen gefährlicher Körperverletzung. Als er zwei Tage nach der Schlägerei erfuhr, dass man ihn verdächtigte, Günter J. auf den Kopf getreten zu haben, stellte er sich. Der Prozess begann im Dezember.

Jetzt hat es eine Richtungsentscheidung des Hamburger Landgerichts gegeben: Der Haftbefehl wurde aufgehoben. Es bestehe kein dringender Tatverdacht mehr, sagte die Vorsitzende Richterin Birgit Woltas. Auf 15 Seiten führt das Gericht aus, warum es Amor S. die vermeintliche Tat nicht nachweisen könne.

Lediglich der Zivilfahnder Jörg Sch. will nämlich an jenem Abend gesehen haben, wie Amor S. den Polizisten Günter J. trat. Jörg Sch. kennt Amor S. lange und hält ihn für einen „Intensivtäter“, der „im Sumpf der Straße“ agiert. Alle anderen Tatzeugen haben angegeben, nichts gesehen zu haben – auch das Opfer nicht. Videoaufnahmen und mehrere Zeugen hätten zudem gesagt, dass Amor S. geschlichtet habe, sagte die Richterin. Zwar habe er ein Motiv gehabt, weil der Festgenommene sein Bruder gewesen sei, sagte Woltas. Dann stünde aber die „Befreiungsaktion in diametralem Gegensatz zu dem vorangegangenen deeskalierenden Verhalten“.

Da der Zivilfahnder Sch. vor Gericht teilweise die Aussage verweigert habe, weil gegen ihn wegen Körperverletzung im Amt ermittelt werde – er soll Mateusz W. im Streifenwagen geschlagen haben – müsse das Gericht seine Angaben einer „besonders strengen Glaubwürdigkeitsprüfung“ unterziehen. Und dieser „doppelten Glaubwürdigkeitsprüfung“ halte Jörg Sch.s Aussage nicht stand. Auffällig sei zudem, dass die Angaben von Sch. immer konkreter geworden seien, je länger der Fall zurückgelegen habe. „Hinsichtlich des Kerns des Tatgeschehens fehlt jedoch die Stringenz“, sagte die Richterin.

Unklar ist auch, ob Fahnder Sch. seine Beobachtungen bereits während des Einsatzes gemeldet hat. Während der Einsatzleiter Oliver P. vor Gericht behauptete, Sch. habe Amor S. während des Einsatzes bereits als Täter benannt, tauchte das in Oliver P.s Vernehmung der Kriminalpolizei in der Nacht nach der Schlägerei nicht auf. Auch über Funk hat Oliver P. am Tatabend nicht nach Amor S. gefahndet. Es sei schwer nachvollziehbar, so Gericht, dass ein Polizeibeamter die Tätersuche erschwere, indem er die Namen von Verdächtigen verschweige.

Auch die an jenem Abend eingesetzten Polizisten, die die Region um den Neuwiedenthaler S-Bahnhof nach dem vermeintlichen Schläger durchkämmten, sagen, dass es keine namentliche Täterfahndung gegeben habe. All dies spreche dagegen, sagt die Richterin, dass Sch. den Angeklagten als Täter benannt habe.

Amor S.’ Verteidiger Uwe Maeffert ist erleichtert. „Das Gerichts hat deutlich gemacht, dass alles auf einen Freispruch hinausläuft.“ Auch der Nebenklage-Anwalt des Polizisten Günter J., Ex-Innenstaatsrat Walter Wellinghausen, begrüßt die Gerichtsentscheidung. „Jetzt wissen alle Verfahrensbeteiligte, wie die Kammer die Sache sieht.“ Wellinghausen räumt durchaus ein, dass die Beweisführung schlüssig sei und man „die Sache so sehen kann“. Der Vorfall sei aber „noch nicht hinreichend aufgeklärt“. Deshalb werde er weitere Beweisanträge stellen.