BILDER VON ZUHAUSE
: Bielefeld, vielleicht

Der Rest ist, seitdem die Zeche in die Krise geriet, Strukturwandel

Der Anruf kommt um 23.30 Uhr. Meine Mutter ruft sonst nie so spät an – oder nur in Notfällen. „Hallo, Junge, das musst du dir ansehen, wir haben Tränen gelacht.“ Sie ist irre gut drauf. Kommt gerade aus dem Kino. „Ein Tick anders“ erzähle die liebenswert-absurde Geschichte von Eva, einem jungen Mädchen mit Tourette-Syndrom, wird mir eindrücklich versichert.

Also sitze ich am nächsten Abend im Berliner Programmkino. Schon nach den ersten Minuten wird klar, warum meine Eltern gerade mich ins Kino schicken: Drehort ist Marl. Marl im Ruhrgebiet. Da bin ich aufgewachsen. Und das ist dann schon was Besonderes, weil in diesem westfälischen Kleinod sonst nicht viel passiert. Kenner wissen vielleicht noch, dass in Marl der Adolf-Grimme-Preis vergeben wird. Der Rest ist, seitdem die Zeche und die ortansässige chemische Industrie in die Krise gerieten, „Strukturwandel“.

Der macht sich auch im Film breit, Evas arbeitsloser Vater kriegt zwar ’nen neuen Job, dummerweise aber in Berlin, und die kleine Heldin will partout nicht weg aus dem Kaff, in dem auch ich, wenn auch völlig freiwillig, das spontan enthemmte Fluchen gelernt habe.

Und ja, ich habe es wieder erkannt, das bekackt-triste Rathaus und die verfickt-versiffte Rundturnhalle neben der Schule, in der Eva mit dem herrlichen Song „Arschlicht“ an einem Casting für Nachwuchstalente teilnimmt, was wunderbar zur Lokalität passt. Aber ich erinnere mich gerne an die auch gezeigten mit Tümpeln gespickten Wälder und die leicht verfallenen Bauernhäuser im Umland.

Nachdem der Film vorbei ist, berlinert mein Sitznachbar seine Frau an: „Nett, wa, weste, wo dit jewesen is?“ Die Dame sagt grinsend: „Bielefeld, vielleicht.“ Nee, sage ich mir leise, aber so was von gar nicht, und denke, langweilig ist es in Marl schon, aber schön – verdammte Scheiße. JAN SCHEPER