Wider die Scheinheiligkeit der Moral

AUSSTELLUNG Vor 200 Jahren starb der Marquis de Sade. Das Pariser Musée d’Orsay würdigt den Einfluss des unheimlichsten aller Denker auf die Kunst mit einer großen Schau

„Der Gedanke eines Gottes ist das einzige Vergehen, das ich dem Menschen nicht vergeben kann“

DE SADE, „JULIETTE ODER DIE VORTEILE DES LASTERS“

VON JEAN-PIERRE BAUDET

„Was in diesem Kopf gärt, ist erschreckend“, bemerkte René Degas über seinen Bruder, den Maler Edgar Degas. Degas’ Bild „Kriegsszene aus dem Mittelalter“ mit den bedrohten, nackten Körpern, von der Kuratorin der Ausstellung Annie Le Brun als Zwischenglied zwischen Botticelli und Picasso interpretiert, könnte als Symbol der Ausstellung „Attaquer le soleil“ („Die Sonne angreifen“) gelten. „Das schulden wir der unterirdischen Verbindung zwischen Degas und de Sade, die Degas’ Bruder René beängstigte“, sagt le Brun.

„Die Sonne angreifen“ ist ein Zitat von de Sade aus dem Episodenroman „Die 120 Tage von Sodom“. Wenn man vom „göttlichen“ Charakter der Sonne ausgeht, versteht man mühelos, dass de Sades Intention genau die ist, die in der deutschen Sprache als „Himmelsstürmerei“ bezeichnet wird. Die Sonne steht für die Ordnung der Welt, an der de Sade rütteln will. Auf Natur beruft er sich beständig, aber auch deren Autorität kann er nicht erdulden.

Für die dem Surrealismus entstammende Dichterin, Schriftstellerin und Essayistin Annie Le Brun ist dies nicht die erste Ausstellung im Musée d’Orsay. Im Frühjahr 2013 hatte sie bereits an „L’ange du bizarre. Le romantisme noir de Goya à Max Ernst“ mitgewirkt, einer Ausstellung, der ein außergewöhnlicher Erfolg beschieden wurde und deren Katalog nirgends mehr aufzutreiben ist.

Wem sonst hätte die neue Ausstellung über de Sade anvertraut werden können als dieser großen Kennerin und Verehrerin des „göttlichen Marquis“? Über ihn hat sie Essays veröffentlicht, deren Anzahl, Tiefe und Stil frühere Bücher anderer Autoren in Vergessenheit geraten lassen.

Le Bruns glühende Verteidigung von de Sade erweist sich als aktueller denn je, da sich in letzter Zeit die Versuche einer neuen Doxa häufen, de Sade als eine Gestalt abzutun, die man bestenfalls als pathologische Antizipation der kapitalistischen Entfremdung betrachten sollte, wenn nicht gar als literarischen Vorfahren der Nazis – das hatte bereits mit Adorno und Horkheimer angefangen und setzt sich weiter fort. Daher ist es erfreulich, dass ein wichtiger Anteil der Besucher aus dem de Sade eher feindselig gesinnten Deutschland stammt.

Der Eingang zur Ausstellung führt durch eine Reihe von Filmauszügen, die nur aus Meisterwerken besteht, allerdings ohne sich, mit einer Ausnahme, direkt auf de Sade zu beziehen: „Das goldene Zeitalter“, „Er“ und „Das verbrecherische Leben des Archibaldo de la Cruz“, alle von Luis Buñuel; „Peeping Tom“ von Michael Powell; „Die Augen ohne Gesicht“ von Georges Franju; „Die 120 Tage von Sodom“ von Pier Paolo Pasolini; und „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ von Victor Fleming.

Die Menge anspornen

„Attaquer le soleil“ ist keine keine biografische oder in irgendwelcher Weise persönlich bezogene Ausstellung über de Sade. Zwar wird anfänglich das Leben des Marquis angeführt, der 26 Jahre als Gefangener, zur Hälfte im Gefängnis (Vincennes, Bastille) und zur Hälfte in der Irrenanstalt zu Charenton, verbracht hat. In die Irrenanstalt wurde er übrigens überführt, weil er von seinem Fenster die Menge anspornte, ihn und die Gefangenen aus der Bastille zu befreien (der Sturm auf die Bastille fand kurz danach statt). Aber die Absicht der Ausstellung liegt viel mehr darin, zu illustrieren, dass die sadistische Perspektive keine Eigenheit von de Sade war – obwohl er allein sie derart offen aussprach und theoretisierte.

Gerade deshalb wurde er verdammt: Die ehrwürdige Gesellschaft verurteilt jene, die sich zur Freiheit bekennen, auch wenn sie diese nicht unbedingt selbst ausschöpfen. Aber mit Genugtuung duldet sie die Lügner, die über die Macht verfügen und ihre Taten verheimlichen. Deshalb schwankte de Sades Darstellung auch stets zwischen der realistischen Feststellung, dass allein die Mächtigen ihre Triebe befriedigen, die sich auch aus ihrer Machtstellung ergeben, und der allgemeinen Vindikation einer sich austobenden Libido.

Die reiche Ernte an Kunstwerken, die hier zusammengetragen wurde, erweitert den Käfig, in dem man de Sade zu isolieren gedachte. Die Bevölkerung seiner Triebgenossen erweist sich als viel größer, als es der Moral recht wäre, denn die das Begehren anspornende Szenarien der Perversität sind so weit verbreitet, dass sie unweigerlich etwas über den Menschen im Allgemeinen ausdrücken.

Aber es geht nicht nur um den Grad einer demografischen Verbreitung, tiefgehender handelt es sich um die untrennbare Wesensverwandtschaft zwischen der Suche nach Lust und der Freiheit, zu denken. Le Brun sagt: „Alles, und insbesondere das Denken, hat seinen Ursprung in der Energie der Triebe“, den gleichen Gedanken finden wir freilich auch bei de Sade: „Man empört sich gegen die Leidenschaften, ohne daran zu denken, dass an deren Fackel die Philosophie ihre eigene anzündet“, heißt es im Roman „Juliette“. Dass im gegenwärtigen Spätkapitalismus eine merkantile Verdinglichung der Genusssucht diesen Optimismus revidiert hat, ändert nichts an seiner damaligen noch an seiner prinzipiellen Richtigkeit. Auch aus der heutigen Patsche wird keine Moral heraushelfen, sondern nur ein besseres Verständnis unserer Wünsche.

In der Tat beeindruckt den Besucher die Vielzahl der Kunstwerke, die hier versammelt wurden, die Liste der Künstler beträgt über 50. Was gezeigt wird, bezieht sich zuweilen auf Dinge, die de Sade selbst zu Gesicht bekommen hatte, wie die anatomischen Wachsbildungen von Clemente Susini, in denen die Rumpforgane einer liegenden Figur offen liegen: Hier stellt sich eine besondere Art dar, den Dingen „auf den Grund zu gehen“. Als ob die Kenntnis eines Lebewesens dessen Tod bedeuten müsste und als ob sein Wesen sich in den Winkeln seiner Organe versteckte: alles schreckliche Glaubensfragen, die zur Metaphysik des Sadismus gehören. Am anderen Ende der Skala finden die Besucher ironisch-elegante Darstellungen der antireligiösen Leidenschaft de Sades, für den jeder erotische Akt eine Verneinung Gottes und seiner Weltordnung bedeutete, wie im berühmten Werk des surrealistischen Fotografen Man Ray, „Hommage à D.A.F. de Sade“.

In der Vielfalt der Illustrationen liegt aber auch der Schwachpunkt der Ausstellung: Einige Kunstwerke, wie etwa Werke von Auguste Rodin, thematisieren einen „gesunden“ Sinn für Erotik, der mit der spezifischen Perspektive von de Sade kaum etwas gemein hat. Freilich lassen sich Unterscheidungen zwischen Erotik und Pornografie oder Abgrenzungen zwischen Normalität und Perversion nie verlässlich durchführen, sodass ein nicht abbrechender Strom all das, was hier gezeigt wird, durchfließt und eine Art „Einheit“ darstellt. Doch gehört die Transgression derart zur perversen Thematik, für die de Sade einsteht, dass eine erotische, aber dieser Dimension fremd bleibende Abbildung die Gefahr eingeht, nicht mehr zum Thema zu gehören.

Gegen die Todesstrafe

Wenn man daher den Illustrationen zuweilen vorhalten kann, sie seien etwas weitschweifig im Verhältnis zu de Sade, halten sich die ausgestellten Zitate eng an das Thema. Sie stammen nicht nur von de Sade, sondern auch von vielen anderen Autoren aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Deren Auswahl ist einfach makellos. Besonders schillert aus allen De-Sade-Zitaten die energische Eleganz der damaligen Sprache und die logische Festigkeit seines Denkens. De Sade lief beständig Sturm dagegen, die Gewalt dem Staat und der Religion zuzugestehen und dem Einzelnen zu verweigern. Deshalb wendet er sich explizit gegen die Kriege, bei denen Millionen Menschen für einen Staat abgeschlachtet werden, der das Gewaltmonopol für sich beansprucht. Für ihn, der in dieser Hinsicht ein regelrechter Anarchist war, liegt der wahre Skandal genau in dieser grundsätzlichen Unehrlichkeit, weshalb de Sade auch nie müde wurde, gegen die Todesstrafe zu protestieren: „ Aber unter allen diesen Gesetzen ist sicher das Schrecklichste das Todesurteil für einen Menschen, der lediglich Trieben folgte, die ihre Macht auf ihn ausübten“ („Aline und Valcour“). Sein Hass auf Recht und Ordnung potenzierte sich ins Endlose. Kostproben: „Nun frage ich Sie, ist das ein gerechtes Gesetz, das dem Besitzlosen auferlegt, den alles Besitzenden zu achten?“ Oder: „Der Gedanke eines Gottes, ich gestehe, ist das einzige Vergehen, das ich dem Menschen nicht vergeben kann“ („Juliette oder die Vorteile des Lasters“).

Wider die Scheinheiligkeit der Moral galt es für de Sade, den Kampf aufzunehmen und der kollektiven, politischen Revolution eine Befreiung der individuellen Triebe an die Seite zu stellen – was gleichbedeutend damit ist, keine staatliche oder religiöse Gewalt gegen das Volk mehr zu dulden. Ob Nietzsche es nötig gehabt hatte, de Sade zu lesen, um zu folgendem Schluss zu kommen? „Alle Religionen sind auf dem untersten Grunde Systeme von Grausamkeiten.“

■ „Attaquer le soleil“, Musée d’Orsay, Paris, bis zum 25. Januar, Katalog 45 Euro

■ Jean-Pierre Baudet ist Philosoph und lebt in Paris. Zuletzt erschien von ihm „Opfern ohne Ende“ (2013) im Matthes & Seitz Verlag