Die Quartiers-Bohème

In Puccinis „La Bohème“ liegen Glanz und Elend nah beieinander. Die „Bohème am Kottbusser Tor“ versucht sich an einer zeitgenössischen Interpretation und besticht durch ihre Sänger

VON ESTHER SLEVOGT

Die Gegend rund um das Kottbusser Tor ist nicht unbedingt das, was einem einfällt, wenn man an bohèmehafte Lebensformen denkt. Hier bestimmen Altpunks und Neudeutsche das Bild. Feinrippumspannte Bierbäuche und Kopftücher leben in mehr oder weniger friedlicher Koexistenz. Manchmal läuft auch ein Junkie mit Schäferhund durchs Bild. Die Gegend wird geprägt von dem Betonsilo, das sich halskrausenhaft um den Platz mit der Hochbahn windet. Ein Musiktheaterprojekt hat sich nun auf die Fahnen geschrieben, das Quartier auf seine Bohèmetauglichkeit zu prüfen. Neben einer Kiez-Konferenz gab es auch Videos und Performances, als Höhepunkt aber ist eine Operninszenierung im Festsaal Kreuzberg zu sehen. Es ist sicher kein Zufall, dass neben der Deutschen Oper auch das Quartiersmanagement Kottbusser Tor zu den Kooperationspartnern des Projekts gehört.

Der Begriff hatte schon ein wenig Patina angesetzt. Dann aber kam Holm Friebes und Sascha Lobos Buch „Wir nennen es Arbeit“, wo die Digitale Bohème als Lebens- und Arbeitsform gefeiert wird, die ein kreatives Leben jenseits der Festanstellung garantieren soll.

Zwar lässt sich fragen, ob die Abschaffung sämtlicher Grenzen zwischen Leben und Arbeit nicht in Wahrheit neoliberale Verhältnisse manifestiert, statt sie zu unterlaufen. Dennoch ist die nicht leicht zu ziehende Linie, die Leben und Arbeit voneinander trennt, ein Thema, mit dem sich Künstler schon immer auseinandergesetzt haben. Zum Beispiel der italienische Komponist Giacomo Puccini, der vor fast 150 Jahren geboren wurde und in einer Zeit aufwuchs, in der das Künstlerleben zum ersten Mal als gesellschaftliche Lebensform in Erscheinung trat und die Zeitgenossen durch die Ambivalenz von Elend und Glamour faszinierte.

Puccini hat es zum Thema einer Oper gemacht. „La Bohème“, 1896 uraufgeführt, wirft auf dem Höhepunkt der Industrialisierung einen Blick zurück ins Paris des Jahres 1830, wo Künstler, Händler, kleine Leute im beginnenden Kapitalismus um ihre Existenz ringen. Nach hundertjähriger Aufführungspraxis ist der Stoff, aus dem Puccini seine Oper machte, im Pittoresken ziemlich abhanden gekommen – die feuchten Wohnungen etwa, in denen man sich TBC holte und starb.

Und so hat der Regisseur Patrick Wengenroth, der die Oper inszenierte, erst mal allen Opernpomp gestrichen. Stefan Weihrauch hat als musikalischer Leiter die Opulenz der Instrumentierung ebenfalls abgespeckt und behutsam modernisiert. Geblieben sind fünf Sänger und elf Musiker, die die Geschichte fast beiläufig entwickeln. Erst erkennt man sie gar nicht, denn sie sehen aus wie das Publikum: Jeans, luftige Oberteile – was man so trägt an einem heißen Sommertag. Dabei ist es bei Puccini eigentlich mitten im Winter, alles friert. Menschen husten erbärmlich. Manuskripte müssen verbrannt werden, doch auch das wärmt nur mäßig. Hier dagegen ist es heiß, die Sänger sitzen erst an der Bar. Die berühmten Szenen werden dann auf einem Podest mit Tisch in der Mitte gespielt. Manchmal wird auch die Bühne benutzt.

Gesungen wird deutsch und italienisch. Wer die Geschichte nicht kennt, wird ihr nicht immer folgen können. Schon im Original sind die Szenen lose nebeneinandergesetzt: Die Geschichte der frierenden Künstler Rodolfo und Marcello, die kein Geld für die Miete haben, oder Rodolfos Liebesgeschichte mit der sterbenskranken Näherin Mimi. Davon sind fast nur die Arien übrig. Am Anfang irritieren die opernhaften Gesten der Sänger, die in einem merkwürdigen Kontrast zu dem Versuch stehen, die Oper aus dem zeitgenössischen Alltag zu entwickeln. Aber dann machen die fünf stimmgewaltigen Sänger die Aufführung zu einem kleinen Ereignis: Alec Otto als Rodolfo, Katharina Jahkhelln Semb als Mimi, Doreen Hoffrichter als Musetta und Nike Schmitka, die verschiedene Partien singt. Das macht auch wett, dass die Geschichte nicht wirklich in die Gegenwart geholt wird, eine eigenständige Haltung zum Stoff im Ansatz stecken bleibt. Am Ende hat Puccini trotzdem gewonnen.

Heute und am Sonntag, 20 Uhr, sind weitere Aufführungen im Festsaal Kreuzberg, Skalitzer Str. 130, zu sehen