Der Schelm des industriellen Zeitalters

RETROSPEKTIVE Das Babylon-Kino in Mitte lädt stolz zur Filmreihe „Chaplin Complete“. Eine tolle Gelegenheit, diesen großen Komiker des frühen Kinos neu zu entdecken – wären da nur nicht die DVD-Projektionen

In den 70er Jahren galt Chaplin als sentimental. Zum Glück hat sich das geändert

VON BARBARA SCHWEIZERHOF

Mit Charlie Chaplin ergeht es den meisten wie mit Goethe oder Hitchcock: Der Ruhm ist so blendend groß, dass man Schwierigkeiten hat, das Werk dahinter zu sehen. Sicher, man weiß, wer der „Tramp“ ist und dass er in zu großen Hosen mit den Fußspitzen nach außen tippelt und Schnauzbart, Stock und Melone trägt, aber das heißt heute längst nicht mehr, dass man diese Ikone der Filmgeschichte tatsächlich im Kino hat agieren sehen. Wer Chaplin nennt, ruft die Erinnerung an Schnipsel und Ausschnitte hervor: an den Brötchentanz etwa oder diese Szene, in der er einen Schuh kocht und isst, oder an das Friseurstuhlduell, das sich Diktator Anton Hynkel mit seinem Amtskollegen Benzino Napoloni im „Großen Diktator“ liefert, oder an das, was die Tiefen des Gedächtnisses noch so hergeben. Aber einen ganzen Film?

Charlie Chaplin steht mit seinem Namen – unter vielem anderen – für die erste große Ära des neuen Mediums Films. Das Erinnern in Schnipseln hat zum einen damit zu tun, dass sein Frühwerk aus vielen solchen „Schnipseln“ besteht, aus Kurzfilmen, wenn man so will, obwohl es dieses Format noch nicht gab, weil auch sein Gegenstück, der 90-Minuten-Film, erst noch erfunden werden musste. Die Fragmentierung unserer Erinnerung in Sequenzen und „Stellen“ mag aber auch ein Hinweis darauf sein, wie wir Filmgeschichte aus dem Abstand von Jahrzehnten tatsächlich wahrnehmen. Was verloren geht, sind interessanterweise weniger die Details als vielmehr der Kontext. Umso wichtiger werden deshalb Retrospektiven und Filmreihen, die diesen Kontext wiederherstellen, sei es im Bezug auf ein Werk oder im Bezug auf dessen Zeit.

„Chaplin Complete“, so die Überschrift der Retrospektive im Berliner Kino Babylon Mitte, ist darum auf den ersten Blick eine echte Verheißung. Gleich mehrere Zusammenhänge verspricht die Veranstaltung wiederherzustellen, die es lohnend erscheinen lassen, im Grunde alle, auf jeden Fall aber einzelne Filme anzusehen. Da ist zum einen natürlich der Werkcharakter, der sich aus der Vollständigkeit ergibt: Wer es schafft, kann Chaplins ganze Entwicklung von den vor Einfallsreichtum sprühenden frühen Stummfilmtagen des Jahres 1914 bis zur quasi unfreiwilligen Melancholie seines letzten Films in den späten 60er Jahren, „Die Gräfin von Hongkong“, nachvollziehen. Zum andern ist da der Ereignischarakter: An zehn Tagen gibt es Orchester-Live-Aufführungen zu den Filmen, womit sozusagen die auch seinerzeit „hippste“ Art der Stummfilmrezeption rekonstruiert wird. Und zum Dritten bietet sich die Möglichkeit, die oben erwähnten „Schnipsel“ wieder in ihren richtigen Kontext zu positionieren.

Wer nun also den Brötchentanz, das Schuhkochen und weitere Chaplin-Schmankerl wie den Löwenkäfig, die Feuerwehr oder den Ausflugsdampfer in ihren jeweiligen filmischen Zusammenhängen sieht, kann eine große Entdeckung machen: die ungeheure Beredtheit des Stummfilms. Es ist nämlich ein heute ins Expertentum abgedrängtes Wissen, dass der Stummfilm nicht nur ein Erzählen in Bildern ohne Ton war, sondern dass er ein eigenes Erzählen mit einer eigenen Grammatik kannte, das mit dem Tonfilm verloren ging. Das Vergnügen an Filmen wie „The Kid“ und „The Gold Rush“ liegt nicht allein im Slapstick, sondern im Reichtum an Kleinigkeiten, der hier fast jede Szene auszeichnet. Um beim Schuhkoch-Beispiel zu bleiben: Es ist der zuversichtliche Hausfrauenblick, mit dem der Tramp dem hungrigen Goldsucher am Tisch versichert, es dauere nur noch wenige Minuten, oder auch der Schwung, mit dem er auf dem gegarten Schuh auch noch ein wenig „Soße“, also Wasser verteilt, der dieser Szene ihre Abgründigkeit verleiht. Die Sprachlosigkeit des Stummfilms war kein Mangel, sie war eine Möglichkeit: Sie ließ eine Exzentrik, ein Timing, einen Bildwitz zu, dem das gescriptete Reden später das Aus bereitete.

Es war für Chaplin deshalb weniger Unfähigkeit als Unwillen, nach der Erfindung des Tonfilms von dieser „Sprache“ und dem darin von ihm so wesentlich geprägten „Idiom“ Abschied zu nehmen. So ist „Modern Times“, entstanden 1936, sieben Jahre nach der Einführung des Tons, noch immer durch und durch ein Stummfilm – mit ein paar wenigen Toneffekten. Ähnliches gilt für „Der große Diktator“ von 1940, der zwar längere Dialogpassagen hat – und die berühmte Rede am Ende –, in seinen wesentlichen Szenen aber ganz auf die Stummfilmästhetik baut.

Großartig: Kleinigkeiten wie Chaplins zuversichtlicher Hausfrauenblick

Vor allem die Action- und Verfolgungsszenen der frühen Filme zeigen aber genauso, wie viel von Chaplins „Idiom“ zur auch noch in Tonzeiten gültigen filmischen Standardsprache wurde. Chaplin, der als Schauspieler, Regisseur, Cutter, Produzent und manches Mal sogar als Komponist eine Kontrolle über das eigene Schaffen hatte wie kaum ein anderer Star des Filmgeschäfts seither, liefert noch heute das Skelett vieler Komödien und Abenteuerfilme.

In seinen großen Zeiten galt Chaplin als „funniest man alive“ und war wohl tatsächlich der berühmteste Mann der Welt, aber als er 1977 starb, war man besonders unter Filmfans und -kritikern der Meinung, dass ihm Buster Keaton oder die Marx Brothers vorzuziehen seien. Auch das ist ein Kontext, den man heute erst wieder rekonstruieren muss. Chaplin, der in den USA stets als ausgesprochen links gegolten hatte und Anfang der 50er von McCarthy aus dem Land getrieben worden war, wurde von den cinephilen Europäern der 70er für „Mainstream“ gehalten und für seine Sentimentalität verachtet. Seither hat sich die Mode wieder geändert. Mit der Figur des Tramp, dieses Schelms des industriellen Zeitalters, kann man sich heute wieder auf der ganzen Welt identifizieren: ein Typ, dessen Kleidung man ansieht, dass er einst bessere Tage gesehen hat, der sich im permanenten ökonomischen Abstieg befindet, dabei aber stets auf bessere Tage hofft und unbeirrt das Weite und das Glück sucht.

Für den Kinofan ist jede Retrospektive gewissermaßen ein Festmahl, dem er eigentlich kritiklos, aus purer Freude am Dargebotenen, beiwohnen will. Doch das Babylon Mitte schafft es, diese Feierstimmung gehörig zu trüben. Von den 80 Filmen werden nur 12 (darunter vor allem Chaplins Langfilme) in 35mm-Kopie vorgeführt – und das noch nicht einmal bei jedem Termin. Beim größten Teil des Programms steht als Format „digital“, womit meist gemeint ist, dass hier DVDs gezeigt werden. Eine Praxis, für die das Babylon Mitte bereits berüchtigt ist. Auch wenn Kinoleiter Timothy Grossman dieses Vorgehen als einzig machbares verteidigt, spricht es der Aufgabe Hohn, die das Babylon als öffentlich gefördertes Kino übernommen hat. Der Kinogänger sollte also das Programm genau studieren und sich überlegen, für welche Projektion er Geld ausgeben will.

■ „Chaplin Complete“: bis zum 7. August, Programm unter www.babylonberlin.de