„Die Täter manipulieren Kinder und Kollegen“

MISSBRAUCH Mehr Beratung wäre nötig, sagt die Leiterin von Wildwasser. Doch dafür fehlt Geld

■ Die 43-Jährige ist Geschäftsführerin von Wildwasser. Der Verein berät in Berlin sexuell missbrauchte Mädchen und war 1983 die erste Anlaufstelle dieser Art in Deutschland.

taz: Frau Hölling, das Thema Kindesmissbrauch wird seit Monaten öffentlich diskutiert. Aktuell hat das Deutsche Jugendinstitut Zahlen herausgegeben, nach denen es in 70 Prozent der befragten Heime und 40 Prozent der Schulen Verdachtsfälle gab. Zahlen, die auch für Berlin gelten?

Iris Hölling: Alle Arten von Missbrauch, die hier untersucht wurden, gibt es natürlich auch in Berlin. Gerade Missbrauch in Institutionen ist für uns überhaupt kein neues Thema, auch wenn die mediale Debatte manchmal den Eindruck erwecken mag. In diesem Bereich beraten wir schon seit etwa 15 Jahren.

Hat sich die Zahl der Opfer, die sich an Sie wenden, seit der starken medialen Präsenz verändert?

Das würde ich nicht sagen, die Zahl war immer schon hoch. Allein 2010 haben wir 730 betroffene Mädchen beraten. Aber Institutionen wie Kitas, Schulen und Heime wenden sich inzwischen vermehrt an uns, um sich präventiv oder in konkreten Missbrauchsfällen beraten zu lassen. Einrichtungen der ambulanten und stationären Jugendhilfe sind in Berlin laut dem kürzlich verabschiedeten Rahmenvertrag sogar verpflichtet, sich mit dem Thema Kindesmissbrauch zu beschäftigen.

Gerade die Zahlen der Verdachtsfälle in Heimen sind erschreckend hoch. Inwiefern ist die Situation dieser Betroffenen eine besondere?

Die Folgen des Missbrauchs sind erst einmal ähnlich. Aber man muss sich vor Augen führen, dass die Kinder und Jugendlichen in Heimen in der Regel schon eine Misshandlungs- oder sogar Missbrauchserfahrung hinter sich haben. Wenn sie dann in dem Raum, der sie eigentlich schützen sollte, wieder missbraucht werden, bedeutet das natürlich einen immensen Vertrauensverlust.

Wie finden diese Kinder überhaupt zu Beratungsstellen wie Wildwasser?

Ohne Unterstützung in der Regel gar nicht. Und hier ist auch ein großes Problem. Kinder, die etwa in Schulen oder Sportvereinen missbraucht werden, haben zumindest die Chance, sich an ihr familiäres Umfeld zu wenden und Gehör zu finden. Kindern und Jugendlichen in Heimen fehlt dieses Netzwerk. Auf der anderen Seite sind gerade sie natürlich tagtäglich von professionellen Helfern umgeben, die Anzeichen von Missbrauch eigentlich erkennen müssten.

Deshalb ist die Sensibilisierung der Erzieher und Erzieherinnen auch besonders wichtig …

Richtig. Das Problem ist, dass Täter häufig besondere soziale Fähigkeiten haben. Sie manipulieren nicht nur gerade die Kinder, die besonders hilfebedürftig sind. Sie täuschen auch ihre Kollegen. Kommt ein Missbrauchsfall an die Öffentlichkeit, so ist das auch für die Kollegen eine Schocksituation, die ohne Unterstützung nicht aufgearbeitet werden kann.

Weil so etwas keiner erwartet?

Häufig fallen den Kollegen im Nachhinein schon auffällige Situationen ein. Zudem treten Missbrauchsfälle oft in Institutionen auf, in denen es auch an anderen Stellen schon Grenzverletzungen gibt oder in denen besonders strenge Hierarchien Offenheit verhindern. Jedenfalls kann man sagen: Je geschlossener das System ist, in denen die Kinder und Jugendlichen leben, desto notwendiger sind die systematische Beratung und Kontrolle etwa durch externe Beschwerdestellen oder Berater.

Angesichts der großen Öffentlichkeit versprechen Politiker nun strengere Richtlinien. Reicht das?

Das ist prinzipiell gut. In Berlin sind wir da auf dem richtigen Weg. Aber Richtlinien sind das eine und Ressourcen das andere. Ich kann für unsere Beratungsstelle sagen, dass wir an der Grenze unserer Möglichkeiten sind. Wenn sich alle Institutionen beraten lassen würden – und das wünschen wir uns ja –, dann würde das unsere Kapazitäten überschreiten.

INTERVIEW: MANUELA HEIM