Der Zauber der Gleichaltrigkeit

Das Stück dauert lang, und aufmerksam zugehört werden muss auch noch: Wer würde denken, dass ausgerechnet Jugendtheater mit solchen Eigenschaften funktioniert? Ein Besuch bei den „Jungen Akteuren“ in Bremen offenbart Erstaunliches

„Arg in die Länge gezogen“, urteilt das lokale Feuilleton über die Inszenierung von Tanja Dückers’ „Spielzone“ im „Moks“, der Kinder- und Jugendsparte des Bremer Theaters. Mit Zweieinviertelstunden ist das Stück über Berliner Parallelwelten in der Tat lang, außerdem ist es literarisch anspruchsvoll. Gerade deswegen scheint es zu „funktionieren“: Schnelle Schnittfolgen und andere Kniffe einer TV-orientierten Theaterästhetik gibt es hier keine, stattdessen muss zugehört werden: langen Dialogen, in denen etwa eine etwas ältliche Frau Minzlin (Jelena Mitschke) ihre Salatblätter analysiert und Laura (Seyneb Saleh) dafür von Jungsproblemen berichtet: „Alle, die nicht total schrulle aussehn, haben schon einen.“

Dückers lässt in ihrem Patchwork-Roman gegensätzliche biographische Universen aufeinandertreffen, Regisseur Joachim von Burchard fragmentarisiert diese Episoden noch weiter. Dabei entsteht ein Eindruck von komplexer Zusammengehörigkeit: All die Hippies, Youngsters und Normalos zeigen innerhalb ihrer jeweiligen „Spielzone“ ein Stückchen Lebenshaltung. Burchards Bühnenbild ermöglicht unkomplizierte Wechsel: Ein Kreidekreuz auf den Boden, schon ist’s der Friedhof, auf dem Laura und ihre GefährtInnen gern Partys feiern. Die 15-Jährige hat eine Mutter, die am liebsten meditiert – da muss man halt mal raus und andere Leute treffen, und wenn’s der Klärwerkleiter ist, der Abends als Spanner durch die Gegend zieht.

Seyneb Saleh, die Laura spielt, ist selbst nicht viel älter als ihre Figur. Das ist – neben Länge und Literalität – das dritte strukturelle Kennzeichen dieser ungewöhnlichen Inszenierung: Neben den professionellen SchauspielerInnen stehen Jugendliche auf der Bühne. Sie gehören zu den „Jungen Akteuren“, der dem Moks angeschlossenen Theaterschule, die in ihrer Mischung aus offenen Werkstätten, kontinuierlichem Basistraining und aufwändigen Projekten bundesweit einmalig ist.

Bereits mit „Reiher“ von Simon Stephens haben Moks und Junge Akteure bewiesen, wie produktiv das statusübergreifende Miteinander auf der Bühne sein kann. Beim Publikum stellt sich eine Art „Peer-Erlebnis“ ein: Wann sieht man schon mal Gleichaltrige in einer professionellen Inszenierung? Die Anbindung an das große Haus macht sich auch bewegungstechnisch bemerkbar: Heiko Büter, langjähriges Mitglied des Tanztheaters, hat mit den Jugendlichen eine beeindruckende Friedhofs-Choreografie erarbeitet. All das trägt dazu bei, dass das jugendliche Publikum mehr Geduld aufbringt als die bürgerliche Kritik: „Das hätte ruhig noch länger sein können“, sagt eine Zehntklässlerin beim Herausgehen, getoppt von ihrer Freundin: „Es soll jetzt noch nicht zu Ende sein.“ Bei der Ankunft war die Erwartung noch gedämpft, doch offenbar haben diese Berliner Lebensskizzen viel mit dem Gefühlskosmos von Bremer Schülerinnen zu tun.

Ob die Klasse zum Nachgespräch bleiben möchte? „Mal gucken, wie das Bedürfnis bei den Damen und Herren ist“, sagt der begleitende Studienrat in der Pause. Aber dann bleiben viele, um nach der Praxis noch etwas von der dahinter stehenden Theorie mitzubekommen. Da ist von langen Probephasen die Rede (samt Unterrichtsbefreiung auf der Zielgeraden) und vom nebensächlich gewordenem Abitur.

Aus Hildesheim ist eine Seminargruppe angereist. Die Moks-MacherInnen stammen zum Gutteil aus dem eigenen „Stall“: Der Studiengang „Kulturwissenschaft und ästhetische Praxis“ – früher schlicht „Kulturpädagogik“ – gilt als Quell innovativer Theaterpraxis. Vom Erfolg des Moks zeugen nicht nur etliche Einladungen zum deutschen Kinder- und Jugendtheatertreffen, sondern auch der Import des Modells nach Hamburg: Als Friedrich Schirmer dort Intendant wurde, warb er den langjährigen Moks-Leiter Klaus Schumacher aus Bremen ab, um das „Junge Schauspielhaus“ aufzubauen. Auch dort wird jetzt über gemischte Produktionen nachgedacht. HENNING BLEYL

www.jungeakteure.de