Aber hier leben?

WOHNPIONIERE Neue Hausprojekte in der Innenstadt zu gründen ist fast ein Ding der Unmöglichkeit. Jenseits des S-Bahn-Rings sieht es anders aus. Doch das erfordert den Abschied von den bisherigen Vorstellungen des Stadtlebens

VON UWE RADA

Achtung, Sie verlassen den vertrauten Sektor! Magdalenenstraße statt Rigaer Straße; Plattenbaukiez statt Hinterhausromantik. Lange Zeit war das undenkbar. Draußen lebten die anderen. Drinnen war der Ort, zu dem man sich gern mal mit einem „wir“ bekannte. Selbst die taz ist nicht frei von diesem Tunnelblick. 20.375 Treffer spuckt das Archiv seit der Maueröffnung für „Kreuzberg“ aus, 9.863 für „Neukölln“ (davon die meisten jüngeren Datums), nur 4.701 für „Lichtenberg“. Dabei leben zwei Drittel der Berliner außerhalb des S-Bahn-Rings: Nur jeder Dritte gehört zu den glücklichen Bewohnern der sogenannten Innenstadt.

Eine sonderbare Grenze ist das, weil es ja auch in Kreuzberg Neubausiedlungen wie die Otto-Suhr-Siedlung am Waldeckpark gibt, während Pankow und der Kiez um die Magdalenenstraße in Lichtenberg mehr mit Prenzlauer Berg und Friedrichshain zu tun haben als mit Buch oder den Elfgeschossern am Tierpark. Und doch markiert die Ringbahn diese Teilung der Stadt, eine Demarkationslinie zwischen vertraut und fremd, Espresso und Filterkaffee, Biosupermarkt und Discounter.

Schluss damit! Inzwischen zieht es Wohnprojekte nach Lichtenberg, in Oberschöneweide läuft sich ein Künstlerkiez warm, Weißensee wird Tummelplatz für Bullerbü-Familien. Auch statistisch lässt sich das belegen: Längst sind die Urberliner außerhalb der Ringbahn nicht mehr unter sich. Rund um die Magdalenenstraße sind die Zugezogenen laut dem Amt für Statistik mit 54,3 Prozent bereits in der Mehrheit, in Oberschöneweide-Ost halten die Urberliner mit 50,5 Prozent nur noch knapp die Stellung. Warum aber sollen die Berliner nicht das Gleiche schaffen wie die Neuberliner und über ihren Tellerrand hinausschauen?!

„Es gibt kein Recht auf Wohnen in der Innenstadt“, hat Innensenator Frank Henkel (CDU) einmal gesagt. Das ist natürlich Quatsch. Der Schutz vor Verdrängung durch horrende Mietsteigerungen muss – auch in der Innenstadt – mehr denn je auf der politischen Agenda stehen. Genauso Quatsch ist es aber, ganze Bezirke und Stadtteile als Peripherie zu stigmatisieren. Viel eher werden sie derzeit zu Laboren eines neuen Aushandlungsprozesses darüber, was Stadt unter den Bedingungen steigender Mieten bedeutet – und bedeuten kann. Das ist auch eine Chance. Nie waren die Milieus einzelner Kieze so durchlässig wie heute. Und nie waren homogene Kieze so langweilig. Das gilt für den Kollwitzplatz mit seinen knapp 70 Prozent Zugezogenen ebenso wie für Tegel mit seinen 70 Prozent „Urberlinern“.

„Wir sind Teil einer neuen Bewegung“ – so lautete die Parole einiger Künstler der Kunsthochschule Weißensee, als sie 2002 zwei Hochhäuser in Hellersdorf besetzten. Sie nannten ihr Projekt Dostoprimetschatjelnosti, Russisch für Sehenswürdigkeiten. Mehr als zehn Jahre später sind Projekte wie diese keine temporären Kunstaktionen mehr, sondern Suchbewegungen nach neuen städtischen „Zuhausen“. Und vertraute Sektoren gibt es längst auch am Stadtrand.

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