Ein Bergmann will kein bergfrei

VON LUTZ DEBUS

In vier Jahren ist alles vorbei. Keine Arbeit mehr. Dann ist Ulli Pietsch nicht mal 50 Jahre alt. „Wenn der Kohlepreis weiter so steigt, kann ich vielleicht auch weiter machen“, gibt sich der Steiger optimistisch. Dann würde seine Zeche Auguste Viktoria in Marl nicht stillgelegt, weil sie unter solchen – zugegebener Maßen unwahrscheinlich klingenden – Voraussetzungen Kosten deckend arbeiten könnte.

Im Moment jedoch ist der Betrieb der „Deutschen Steinkohle AG“ für den Staat ein Zuschussunternehmen. Die Kohlesubvention, das hat die Bundesregierung vor Wochen beschlossen und NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) nach langem hin und her abgenickt, wird Ende 2018 endgültig auslaufen. Und schon vorher werden tausende Bergleute ihren Arbeitsplatz räumen. Damit keine Jungen ins „Bergfreie“ fallen, so erklärt Ulli Pietsch, werde er als einer der alten Kumpel in den Frühruhestand gehen. „Bergfrei“ steht für ein Leben ohne Zeche.

Aber auch für den stämmigen 45-Jährigen aus Lünen ist diese Vorstellung ungewohnt. „Bergfrei“, das hat es in seiner Familie kaum gegeben. Der Vater war Bergmann. Vier seiner Onkel arbeiteten auf der Zeche. Und der Großvater mütterlicherseits. „Tragisch. Er musste nicht in den Krieg, war als Kumpel unabkömmlich. Dachte, er hätte Glück gehabt. 1943 ist er im Schacht tödlich verunglückt.“ Bei einem Hobelkettenriss, berichtet der sonst munter erzählende Mann mit leiser Stimme, habe die durch die Luft sausende schwere Kette seinen Opa erschlagen.

Auch der Vater von Ulli Pietsch hat unter Tage Schreckliches erlebt. Ein Kollege verunglückte tödlich, ein anderer wurde schwer verletzt. Irgendwann hielt es der Vater nicht mehr aus und kündigte. Statt auf der Zeche arbeitete er lieber im Kohlekraftwerk. Trotzdem wollte Ulli Pietsch nach der Schule Bergmann werden. Auch wenn die Mutter protestierte: „Meine Kinder sollen nicht in die Grube.“ Obwohl dieser oft gehörte Satz doppeldeutig verstanden werden kann, setzte sich der Junge durch und bewarb sich bei der Zeche „Haus Aden“ in Bergkamen-Oberaden.

Der Förderturm von Schacht 2 lag gerade vier Kilometer entfernt von der elterlichen Wohnung in Lünen-Süd. „Das klingt heute unglaublich. Ich habe nach meinem Hauptschulabschluss eine einzige Bewerbung geschrieben und wurde sofort genommen.“ Damals, vor 30 Jahren, gab es knapp eine Million Arbeitslose. Die ersten drei Monate verbrachte der Betriebsschlosserlehrling am Schraubstock. „Ich durfte nur feilen und sägen. Alles mit der Hand. Die wollten sehen, ob ich mir Mühe gebe.“ Die Ausbildung auf der Zeche hatte damals einen sehr guten Ruf. Als er 16 Jahre alt war, durfte er das erste Mal einfahren. Für ihn unvergesslich die ersten Sekunden im Korb. „Es ist, als ob du fällst, so schnell geht das in den ersten Sekunden runter.“ Die Althauer hätten sich totgelacht wegen der käsigen Gesichter der Junghauer. Ein altes, immer wiederkehrendes Schauspiel. Unten angekommen, offenbarte sich für den Neuen eine völlig andere Welt. „Wie ein gigantisch großer Abenteuerspielplatz.“ Noch immer leuchten Pietsch Augen, wenn er davon berichtet. „Es ist nicht so dunkel, wie man denkt.“ Überall gab es für den Schlosser etwas zu reparieren. „Kilometerlange Kettenförderer. An diesen Förderbändern aus Metall geht schon mal was kaputt.“

Die Entfernungen unter Tage haben Ulli Pietsch immer beeindruckt. „Die Kohle, die unter Haltern gefördert wurde, kam 30 Kilometer südlich erst ans Tageslicht.“ Auch wenn die Geschichten, die Pietsch von seiner Marler Zeche erzählt, ähnlich klingen wie die der alten Kumpel – sein Leben „oben“ ist dann doch nicht ganz so typisch. Zwar lebt er mit seiner Frau und seiner siebenjährigen Tochter in Lünen-Süd, einem durch den Kohleabbau geprägten Stadtteil an der Grenze zu Dortmund. Aber er bewohnt nicht eines jener schwarz-grauen Siedlungshäuser, die vor etwa 100 Jahren gebaut wurden. Pietsch nennt ein neues kleines Häuschen sein Eigen. Statt der früher obligatorischen Kaninchenställe hat er für seine Kleine einen Sandkasten im überschaubaren Garten aufgestellt. Der Zierrasen ist gepflegt. „Ich züchte auch keine Tauben und bin auch nicht in der SPD“, lacht der Steiger. „Das gibt es auch in meiner Generation noch, ist aber selten geworden.“

Die Sozialdemokraten hat er zwar schon öfters gewählt, aber auch schon mal die Grünen. „Um die SPD zu ärgern“, gibt Pietsch unumwunden zu. Seit dem Kosovokrieg und den dann folgenden Auslandseinsätzen der Bundeswehr fühlt er sich politisch heimatlos. „Die Zeit der Friedensbewegung hat mich geprägt.“ Zunächst nur, weil der große Bruder hin ging, war auch er in der Deutschen Friedensgesellschaft / Vereinigte Kriegsgegner (DFG/VK). Damals, zu Beginn der Achtzigerjahre, legte man sich kollektiv zum symbolischen Sterben in Lünens enge Fußgängerzone. „So ein Die-in war Klasse“, erinnert sich Pietsch etwas wehmütig. Auch bei den großen Demos damals in Bonn und beim Ostermarsch war er dabei. Wie selbstverständlich verweigerte der damalige Maschinenschlosser den Wehrdienst. Stattdessen versorgte er alte Menschen. „Meine politische Einstellung hat sich bis heute nicht verändert“, erzählt Pietsch. „Dummerweise hat sich aber die SPD verändert.“

Mitte der Achtzigerjahre begann der Bergmann dann noch etwas ganz Neues. Er besuchte zwei Jahre die Technikerschule und wurde Steiger. Seit der Zeit ist er für die Wartung der „Einschienenhängebahnen“ zuständig. Moderner kann er es auch ausdrücken: „Ich arbeite im Bereich Logistik.“ Hat Ulli Pietsch nicht auch manchmal Angst unter Tage? Er selbst war 1992 auf der Zeche Grimmberg und war auch unten, als sieben Bergleute umkamen. „Wir waren noch nicht oben, da sendete RTL schon von dem Grubenunglück.“

Aber eigentlich, trotz dieses Erlebnisses, trotz der Familiengeschichte hat Ulli Pietsch keine Bedenken. „Der Beruf des LKW-Fahrers ist weitaus gefährlicher, statistisch gesehen.“ Auch die anderen Gefahren hätten in den letzten Jahren an Schrecken verloren. Der berüchtigte Steinstaub, früher weit verbreitete Todesursache unter den Kumpeln, spiele keine Rolle mehr. „Die Grube ist immer gut belüftet. Der Staub wird an den Maschinen bereits abgesaugt. Und wir werden doch alle zwei Jahre untersucht.“

Mehr Sorge bereitet ihm die Zeit nach dem Erwerbsleben. „Rente ist nicht Lohn. Gut, meine Frau kann dann arbeiten gehen.“ Ulli Pietsch hat dann Zeit, sich mehr um die Tochter zu kümmern. Im Moment arbeitet er in Wechselschicht, ist also nicht zu Hause oder oft müde. Aber wird ihn seine Tochter in vier Jahren noch sehr in Anspruch nehmen? Sie ist dann 11 Jahre alt. Bleiben also die Hobbys. Zum einen begeistert sich Pietsch für elektronische Musik. Auch nicht gerade typisch für einen Knappen. „Ich habe 170 Tonträger von Klaus Schulze im Keller stehen“, berichtet der baldige Frührentner stolz. Für die Landesgartenschau 1996 in Lünen habe er ein Konzert organisiert. Eine ganze Veranstaltungsreihe hat er mit dem Kulturamt durchgeführt.

Mindestens ebenso wichtig ist für Pietsch die Fotografie. „Analog natürlich und am liebsten mit Weitwinkel.“ Mit seiner alten Nikon lichtet er am liebsten Industriedenkmäler ab. Für den altehrwürdigen Förderturm der Zeche Königsborn in Unna hat er sich ein besonders helles Blitzgerät besorgt. In der Kokerei vom Zollverein in Essen konnte er einfach in die still gelegte Koksbatterie hineinspazieren. „Da gab es früher Arbeitsplätze auch für ganz schwache Hauptschüler“, erzählt Pietsch. „Manchem Gastarbeiter hat man die Arbeitsabläufe mit Pantomime gezeigt und es klappte. Und jetzt sind die Anlagen ein Museum und die Leute bekommen Hartz IV.“

Besonders berührt hat ihn ein Fototermin auf der Zeche Ewald in Herten. Diese wurde 2001 stillgelegt. Drei Jahre später konnte Ulli Pietsch im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Extraschicht“ noch mal einfahren. Alles war so wie am Ende der letzten Schicht. Nur die Menschen fehlten. „Für einen Außenstehenden mag so was aussehen wie eine Ruine. Für einen Bergmann ist das einfach nur unendlich traurig.“