Sag die ganze Wahrheit, aber schräg…

Menschenscheue Lyrik, kirchliche Choräle und Alice-im-Wunderland-Fahrten voller Windungen und Wendungen. Zum dritten Mal ist heute Abend die Konzertreihe „Young German Jazz“ zu Gast in der Fabrik

Was hat eine im Kreise ihrer calvinistischen Familie groß gewordene, menschenscheue Lyrikerin, die ihr ganzes Leben zurückgezogen im ländlichen Amherst in Massachussetts verbracht und postdepressiv stille und protestantisch-formstrenge Klagelieder über Leben und Tod, Liebe und Enttäuschung, Entsagung und Verzicht verfasst hat, mit dem urbanen Jazz des 21. Jahrhunderts zu tun? Noch dazu, wenn diese Lyrikerin schon 1886 das Zeitliche gesegnet hat? Auf die Antwort musste man nach Emily Dickinsons Tod knapp 120 Jahre warten. Dann jedoch fielen deren unkonventionelle Verse – „Sag die ganze Wahrheit, aber sag sie schräg“ lautet eine programmatische Zeile – der Berliner Jazzpianistin und -komponistin Julia Hülsmann in die Hände. Die ihrerseits hat nicht nur ein feines Gespür für formbewusste und hintergründige Lieder, sondern auch für außergewöhnliche Stimmen.

So sorgte Hülsmanns Trio mit dem Bassisten Marc Muellbauer und dem Schlagzeuger Rainer Winch bereits 2003 zusammen mit der norwegischen Sängerin Rebecca Bakken mit Vertonungen von Gedichten des US-amerikanischen Avantgarde-Lyrikers E. E. Cummings für Furore. Von der Fachpresse hoch gelobt und mit dem German Jazz Award ausgezeichnet, findet sich das Album „Scattered Poems“ mehrere Wochen in den deutschen Jazz-Top Ten.

Nachdem Hülsmann für eine Randy Newman-Hommage die „Vienna Art Orchestra“-Sängerin Anna Lauvergnac gewinnen konnte, begeisterte sie schließlich im letzten Jahr den Ex-„Jazzkantine“- und Ex-„Soulounge“-Sänger Roger Cicero für ihre Interpretationen des Dickinson’schen Werks. Der allerdings spielt spätestens seit dem Eurovision Song Contest in einer anderen Einkommensliga nebst entsprechendem Terminkalender und so ist es heute Abend der Jazz- und Tangosänger Daniel Mattar, der Dickinsons Lyrik die Stimme leiht.

Historisch noch weiter zurück geht der zweite Act heute Abend, der Kölner Saxophonist Frank Sackenheim mit seinem Quintett. Für das Projekt „Lamentation“ hat er sich chorale Kirchenmusik verschiedener Epochen vorgenommen. So gibt es etwa Johann Crügers Choral „Herz Liebster Jesu“ aus dem 16. Jahrhundert nun mit zwei Bläsern und einer Rhythmusgruppe zu hören. Dass das gelingt und jüngst von Roger Willemsen als der „aufregendste musikalische Aufbruch, der einem in Deutschland derzeit zu Ohren kommen kann“ bezeichnet werden konnte, liegt sicher auch daran, dass Sackenheim Kirchenmusik schon als Ministrant verinnerlichte. Fehlte nur noch der späte John Coltrane als Vorbild und ein Quintett auf höchstem Niveau.

Glaubenssätze spielen schließlich beim dritten heutigen Act vor allem als zu brechende eine Rolle. Und so veranlasst der Irgendwie-Post-Bebop des Gabriel Coburger Quintetts auch die Zeitschrift Jazzthetik zu experimentellen Formulierungen: Uns erwarte eine „Alice-im-Wunderland-Fahrt durch die Hallen postmodernen Schwermetalljazzes, voller Windungen und Wendungen um brackige Resttröpfchen vergangener Bebopfreuden herum“. ROBERT MATTHIES

Sa, 23. 6., 21 Uhr, Fabrik, Barnerstraße 36